Psalm 6: Unterschied zwischen den Versionen

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{{S|1}} Für den Chorleiter (Dirigenten, Singenden, Musizierenden)<ref>Genaue Bedeutung unklar. Die gewählte Übersetzung ist mehr oder weniger Konvention, obwohl es nicht an alternativen Übersetzungsvorschlägen mangelt.</ref>.<br />
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{{S|1}} ''Für den Chorleiter (Dirigenten, Singenden, Musizierenden)''.<br />
Zum Saitenspiel (auf Saiteninstrumenten) auf der Achten<ref>''auf der Achten'' - Bedeutung unklar; die folgenden Deutungen sind nicht mehr als Spekulationen:<br />
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''Zum Saitenspiel (auf Saiteninstrumenten) [vorzutragen] von Basstimmen''<ref>''Für den Chorleiter'' + ''Zum Seitenspiel'' + ''Bassstimmen'' - Wie bei den meisten Psalmen sind auch hier die Bedeutungen der Begriffe im Titel unklar; die Primärübersetzungen sind die, die sich am häufigsten in den dt. Üss. finden.<br />Die heb. Entsprechung der Üs. „von Bassstimmen“ findet sich auch im Titel von [[Psalm 12#s1 |Ps 12,1]]. Wegen [[1Chroniken 15#s20 |1 Chr 15,20f.]], wo sich das Wort neben ''`alamot'' findet, was oft als „Jungfrauenweise“=„hohe Gesangsstimme“ gedeutet wird, geht man häufig davon aus, dass er etwas mit der musikalischen Begleitung oder Vortragsweise des Psalms zu tun habe und schließt davon dann z.B. auf die Bedeutungen „Für die Bassstimme“ (so z.B. Craigie 1983), „in der achten Tonart“ (so z.B. Werner 1959, S. 384-388) oder „[zu spielen] auf der achtseitigen Harfe“ (so z.B. Kraus 1961, S. XXVIII).</ref><br />
# Am häufigsten werden zur Erklärung noch die Verse [[1 Chronik 15#s20 |1 Chr 15,20f]]; [[Psalm 12#s1 |Ps 12,1]] und [[Psalm 46#s1 |Ps 46,1]] herangezogen: In [[Psalm 12#s1 |Ps 12,1]] steht ebenso wie in unserem Vers ''haschäminit'' im Titel; in [[1 Chronik 15#s20 |1 Chr 15,20f]] steht dieses Wort zusammen mit ''alamot'', was wohl etwa „Jungfrauenweise“=„hohe Gesangsstimme“ bedeutet und sich auch [[Psalm 46#s1 |Ps 46,1]] im Titel findet; entsprechend wären die ''schäminit'' der Bass der Männerstimmen (so z.B. Craigie 1983, S. 80; Delitzsch 1894, S. 96). Zu übersetzen wäre dann etwa: „Für den Chorleiter. Für tiefe Stimmen mit Saitenbegleitung“.<br />
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''Ein Psalm (begleitetes Lied) von (für, über, nach Art von) David.''{{par|Psalm|12|1}}<br />
# Ibn Ezra und Saadia gingen davon aus, dass es in der israelitischen Musik acht Tonarten gegeben habe und dieser Psalm also in der achten Tonart zu spielen sei (so z.B. auch Terrien 2003, S. 112; vgl. dazu auch Werner 1959, S. 384-388). Zu übersetzen wäre dann etwa „zu Saitenspiel im achten Ton“.<br />
 
# Raschi und Kimchi dachten außerdem an achtsaitige Harfen, so z.B. auch Kraus 1961, S. XXVIII; doch gab es zur Abfassungszeit des Psalms solche Harfen wohl noch nicht (Terrien 2003, S. 112) und in [[1 Chronik 15#s21 |1 Chr 15,21]] kann das Wort kein Instrument meinen.</ref>.<br />
 
Ein Psalm (begleitetes Lied) von (für, über, nach Art von) David.{{par|Psalm|12|1}}<br />
 
  
  
{{S|2}} JHWH, nicht in deinem Zorn<ref name="V 2">'''tN''': ''nicht in deinem Zorn/Grimm'' - die beiden Negationspartikeln ''nicht'' sind durch die Präpositionalphrasen ''in deinem Zorn'' bzw. ''in deinem Grimm'' von den Verben getrennt. Das ist sehr untypisch im Hebräischen. Einige (z.B. Baethgen 1904; Broyles 1989, S. 180; Gunkel 1968; Olshausen 1853; Podechard 1920) gehen davon aus, dass so Nachdruck nicht auf die Verben, sd. auf die PPs gelegt werden soll („nicht ''im Zorn/Grimm'' strafe mich, [sondern nach dem Maßstab des Rechts (d.i. „fair“)]“; s. [[Jeremias 10#s24 |Jer 10,24]]; vgl. noch [[Jesaja 64#s8 |Jes 64,8]]: „Nicht ''ewig'' gedenke der Sünden!“; [[Sprichwörter 31#s4 |Spr 31,4]]: „''Für Könige'' ziemt sich das nicht, Lemuel! / ''Für Könige'' ziemt es sich nicht, Wein zu trinken!“). Nach V. 3 ist aber der Gegensatz zu V. 2 („nicht im Zorn“) nicht „nach Gerechtigkeit“, sondern „[strafe mich nicht, sondern] erbarme dich meiner!“; sicher liegt der Fokus also dennoch auf den Verben (vgl. z.B. König 1927, S. 619; s. auch [[Jeremia 15#15 |Jer 15,15]], wo diese syntaktische Analyse ergäbe: <nowiki>*</nowiki>„Nicht ''langmütig'' vernichte mich [, sondern ungeduldig]!“). Vermutlich haben wir es also hier nur mit einer Wortstellungsvariante zu tun.<br />
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Die Funktion der PPs ist es dann, den Beweggrund JHWHs für die Bestrafung des Psalmisten anzugeben: „Strafe mich nicht ''aus Zorn''“, und dann besser: „Strafe mich nicht ''trotz deines Zorns''“, „''Auch wenn du zornig bist'', JHWH - strafe mich nicht!“ (Bratcher/Reyburn 1991, S. 59; ähnlich z.B. BFC, GN, PdV).<br />
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{{S|2}} JHWH, nicht in deinem Zorn<ref group="Text" name="V 2">'''tFN''': ''nicht in deinem Zorn/Grimm'' - die beiden Negationspartikeln ''nicht'' sind durch die Präpositionalphrasen ''in deinem Zorn'' bzw. ''in deinem Grimm'' von den Verben getrennt. Das ist sehr untypisch im Hebräischen. Vermutlich handelt es sich hier aber um eine bedeutungslose Wortstellungsvariante und das „''nicht''“ bezieht sich doch auf die Verben, auf denen auch der Fokus der Sätze liegt. Die Funktion der PPs ist es, den Beweggrund JHWHs für die Bestrafung des Psalmisten anzugeben: „Strafe mich nicht ''aus Zorn''“, und dann besser: „Strafe mich nicht ''trotz deines Zorns''“, „''Auch wenn du zornig bist'', JHWH - strafe mich nicht!“ (Bratcher/Reyburn 1991, S. 59; ähnlich z.B. BFC, GN, PdV).<br />(Einige (z.B. <!--Baethgen 1904; -->Broyles 1989, S. 180<!--; Gunkel 1968; Olshausen 1853; Podechard 1920-->) gehen jedoch davon aus, dass durch diese Wortstellung der Nachdruck nicht auf die Verben, sd. auf die PPs gelegt werden soll („nicht ''im Zorn/Grimm'' strafe mich, [sondern nach dem Maßstab des Rechts (d.i. „fair“)]“; s. [[Jeremias 10#s24 |Jer 10,24]]<!--; vgl. noch [[Jesaja 64#s8 |Jes 64,8]]: „Nicht ''ewig'' gedenke der Sünden!“; [[Sprichwörter 31#s4 |Spr 31,4]]: „''Für Könige'' ziemt sich das nicht, Lemuel! / ''Für Könige'' ziemt es sich nicht, Wein zu trinken!“-->). Nach V. 3 ist aber der Gegensatz zu V. 2 („nicht im Zorn“) nicht „nach Gerechtigkeit“, sondern „[strafe mich nicht, sondern] erbarme dich meiner!“; sicher liegt der Fokus also dennoch auf den Verben (vgl. z.B. König 1927, S. 619<!--; s. auch [[Jeremia 15#15 |Jer 15,15]], wo diese syntaktische Analyse ergäbe: <nowiki>*</nowiki>„Nicht ''langmütig'' vernichte mich [, sondern ungeduldig]!“-->).)<br />
 
'''Anm. d. Üs.''' (S.W.): Wenn wir in V. 3 {{hebr}}עֲצָמָֽי{{hebr ende}} ''`atsamaj'' („meine Knochen“) als {{hebr}}עצְמִי{{hebr ende}} ''`atsmi'' („mein Gebein“) vokalisierten, ließe sich die Wortstellungsvariante damit erklären, dass so in Vv. 2f ein Endreim herbeigeführt werden soll: ''tokiche'''ni''''' („strafe mich“), ''täjasre'''ni''''' („züchtige mich“), ''a'''ni''''' („ich“), ''`ats'''mi''''' („mein Gebein“). „Mein Gebein“ wäre dann ein kollektiver Singular mit der Bedeutung „meine Gebeine“, das deshalb mit Pluralverb konstruiert wurde und wegen diesem Pluralverb von den Masoreten fälschlicherweise als Plural vokalisiert wurde.</ref> strafe (züchtige) mich<br />
 
'''Anm. d. Üs.''' (S.W.): Wenn wir in V. 3 {{hebr}}עֲצָמָֽי{{hebr ende}} ''`atsamaj'' („meine Knochen“) als {{hebr}}עצְמִי{{hebr ende}} ''`atsmi'' („mein Gebein“) vokalisierten, ließe sich die Wortstellungsvariante damit erklären, dass so in Vv. 2f ein Endreim herbeigeführt werden soll: ''tokiche'''ni''''' („strafe mich“), ''täjasre'''ni''''' („züchtige mich“), ''a'''ni''''' („ich“), ''`ats'''mi''''' („mein Gebein“). „Mein Gebein“ wäre dann ein kollektiver Singular mit der Bedeutung „meine Gebeine“, das deshalb mit Pluralverb konstruiert wurde und wegen diesem Pluralverb von den Masoreten fälschlicherweise als Plural vokalisiert wurde.</ref> strafe (züchtige) mich<br />
: Und nicht in deinem Grimm<ref name="V 2" /> züchtige mich.{{par|Psalm|38|2}}{{par|Jeremia|10|24}}<br />
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_Und nicht in deinem Grimm<ref name="V 2" /> züchtige mich.<br />
{{S|3}} Sei mir gnädig (erbarme dich meiner), JHWH, denn (fürwahr!,) ich [bin] schwach (ermattet)<ref>''schwach'' - Nicht: „welk“ - überwörtlich (wenn denn „welken“ überhaupt wirklich die Primärbedeutung des zugehörigen Verbs ist). So aber viele Üss. und Lexika. Sinngemäß wohl „Ich bin im Zustand der Todesnähe“. Recht häufig hat das Verb außerdem md. die Konnotation „trauern“ (s. [[Jesaja 19#s8 |Jes 19,8]]; [[Jesaja 24#s4 |24,4.7]]; [[Jeremias 14#s2 |Jer 14,2]]; [[Klagelieder 2#s8 |Klg 2,8]]; [[Hosea 4#s3 |Hos 4,3]]; [[Joel 1#s10 |Joel 1,10]]); so sicher auch hier, s. Vv. 7f.</ref>.{{par|Psalm|25|16}}{{par|Psalm|31|10}}<br />
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{{S|3}} Sei mir gnädig (erbarme dich meiner), JHWH, denn ich [bin] schwach (ermattet)<ref>''schwach'' - Viele Üss. und Lexika: „welk“, aber das wäre überwörtlich (wenn denn „welken“ überhaupt wirklich die Primärbedeutung von ''amal'' ist). Besser trifft die Bedeutung sinngemäß wohl ein wörtlich verstandenes „todtraurig“, „so traurig, dass ich dem Tode nahe bin“; s. z.B. [[Jesaja 24#s4|Jes 24,4.7]]: „''Es trauert und verdorrt die Erde; es ''amal'' und verdorrt die Welt; es ''amal'' die Höhen der Erde. ... Es trauert die Rebe, es ''amal'' der Wein; es seufzen alle, die fröhlichen Herzens [waren].''“; [[Hosea 4#s3 |Hos 4,3]]: „''Deshalb wird trauern das Land und es ''amal'' alle, die darin wohnen. Die Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres werden dahingerafft.''“ u.ö.</ref>.{{par|Psalm|25|16}}{{par|Psalm|31|10}}<br />
: Rette mich (heile mich), JHWH, denn (fürwahr!,) erschrocken sind (es zittern, es vergehen)<ref name="vergehen">''erschrocken sind (es zittern, es vergehen) meine Knochen (mein Gebein, ich)'' - Die Rede von den „erschrockenen Knochen“ scheint vielen Exegeten so merkwürdig, dass sie ''nibhalu'' („sie sind erschrocken“) emendieren wollen (-> Textkritik); entweder zu ''balu'' („sie werden morsch“, „sind abgenutzt“; so Cheyne, Halévy 1894c, S. 217, Kraus, Mowinckel, Podechard 1920, S. 45, Schlögl, Schmidt; erwogen auch von Kissane; s. auch BHS) oder zu  ''nablu'' („sie sind verdorrt“; so Gunkel, Herkenne, Nötscher; Perles 1922, S. 51f; s. auch BHS). Das ist unnötig; alternativ möglich:
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_Rette mich (heile mich), JHWH, denn erschrocken sind (es zittern, es vergehen)<ref name="vergehen">''erschrocken sind (es zittern, es vergehen) meine Knochen (ich)'' (V. 3) + ''meine Seele (mein Leben) ist sehr erschrocken (vergeht sehr)'' (V. 4) - Das heißt wohl: „Ich bin erschrocken; / ja, sehr erschrocken!“. Ebenso wie (fast stets) „Seele“ steht im Hebräischen auch „Knochen“ öfter pars pro toto für den ''ganzen'' Menschen (vgl. z.B. <!--Achtemeier 1974, S. 81f; Broyles 1989, S. 179; -->Dalglish 1962, S. 143<!--; Kirkpatrick 1912, S. 81; Loretz 1990, S. 202-->; s. z.B. [[Psalm 35#s9 |Ps 35,9f]]: „''Und meine Seele soll sich freuen wegen JHWH... All meine Knochen sollen sagen: JHWH, wer ist wie du?'').<!--
# Die „Knochen“ stehen im Hebräischen öfter (ebenso wie fast stets das folgende „Seele“; beide ebenso parallel in [[Psalm 35#s9 |Ps 35,9f]]) pars pro toto für den ganzen Menschen (vgl. z.B. Achtemeier 1974, S. 81f; Broyles 1989, S. 179; Dalglish 1962, S. 143; Kirkpatrick 1912, S. 81; Loretz 1990, S. 202). V. 3b und 4a haben dann beide die selbe Bedeutung: „Ich bin erschrocken, / ja, sehr erschrocken.“
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Andere Deutungen:
# Das Verb kann nicht nur von psychischen Vorgängen gebraucht werden:
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# In der Vergangenheit hat man oft die merkwürdige Formulierung mit „erschreckenden Knochen“ als fehlerhaft überlieferten Text korrigiert (-> Textkritik); aus dem Verb machten einige Ausleger entweder „sie werden morsch“, „sie sind abgenutzt“; so Cheyne, Halévy 1894c, S. 217, Kraus, Mowinckel, Podechard 1920, S. 45, Schlögl, Schmidt; erwogen auch von Kissane oder „sie sind verdorrt“; so Gunkel, Herkenne, Nötscher; Perles 1922, S. 51f (beide Vorschläge finden sich noch heute in der BHS).<br />
## kann es auch „zittern“ bedeuten, s. z.B. [[Ezechiel 7#s27 |Ez 7,27]]: „die ''Hände'' meines Volkes ''bahal''=zittern“; dann Anataklasis: „Meine Knochen zittern (=Ich zittere) / und meine Seele ist (=ich bin) sehr erschrocken“; so z.B. Alexander 1850; Goldingay 2006; Houston/Moore/Waltke 2014; Terrien 2003.
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# Alternativ wird oft von einer anderen Bedeutung des Verbs für „''erschrecken''“ ausgegangen. Dieses könnte nämlich auch
## kann das Verb auch „vergehen“ bedeuten, vgl. Ges18 und s. [[Psalm 83#s18 |Ps 83,18]]; [[Psalm 90#s7 |90,7]]; [[104#s29 |104,29]]; [[Zefanja 1#s18 |Zef 1,18]]; ws. auch [[Jesaja 13#s8 |Jes 13,8]]. Dann  
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## „zittern“ bedeuten (s. [[Ezechiel 7#s27 |Ez 7,27]]); dann müsste man von einer Antanaklasis ausgehen: „Meine Knochen zittern (=Ich zittere) / und meine Seele ist (=ich bin) sehr erschrocken“. So z.B. Alexander 1850; Goldingay 2006; Houston/Moore/Waltke 2014; Terrien 2003.
### entweder ebenfalls Anataklasis: „Meine Gebeine (=ich) vergehen / und meine Seele (=ich) ist sehr erschrocken“ (so Airoldi 1968; wohl auch Buttenwieser 1938)
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## „vergehen“, bedeuten; vgl. Ges18 und s. [[Psalm 83#s18 |Ps 83,18]]; [[Psalm 90#s7 |90,7]]; [[104#s29 |104,29]]; [[Zefanja 1#s18 |Zef 1,18]]; ws. auch [[Jesaja 13#s8 |Jes 13,8]]. Dann  
### oder beides als „vergehen“: „Meine Gebeine (=ich) vergehen / und meine Seele (=ich) vergeht sehr“ (so Gowen 1929).
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### entweder ebenfalls Antanaklasis: „Meine Gebeine (=ich) vergehen / und meine Seele (=ich) ist sehr erschrocken“. So Airoldi 1968; wohl auch Buttenwieser 1938.
Weil der Vers nach Deutung 2.2 deutlich am besten mit V. 6 zusammenstimmte, das „sehr“ in 2.2.2 aber stört, sollte man wohl am ehesten Airoldi mit Deutung 2.2.1 folgen; und da diese letzlich bedeutungsmäßig auf das selbe hinausläuft wie die oben angeführten Emendationen, ist dies sogar indirekt beinahe die Mehrheitsmeinung.</ref> meine Knochen (mein Gebein, ich)<ref name="vergehen" />{{par|Ijob|4|14}}{{par|Ijob|5|18}}{{par|Psalm|22|15}}{{par|Psalm|30|3}}{{par|Psalm|31|11}}{{par|Psalm|41|5}}{{par|Psalm|147|3}}{{par|Jeremia|17|14}}{{par|Hosea|6|1}}<br />
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### oder beides als „vergehen“: „Meine Gebeine (=ich) vergehen / und meine Seele (=ich) vergeht sehr“. So Gowen 1929.
: {{S|4}} Und meine Seele (mein Leben) ist sehr erschrocken (vergeht sehr)<ref name="vergehen" />.  
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Ein hebräischer Leser hätte den Vers vermutlich zumindest zunächst nach unserer Deutung verstanden: Für Alternative (1) müsste man den Text ändern, bei (2.1) und (2.2.1) müsste man eine Antanaklasis annehmen, was sich zwar gar nicht selten findet, aber immer heißt: Der Text muss „gegen den Strich gelesen werden“; bei (2.2.2) stört das „sehr“.--></ref> meine Knochen (ich)<ref name="vergehen" /><br />
{Und du,} JHWH, wie lange [noch] (bis wann)...?<ref>Aposiopese: Beinahe bricht aus dem Psalmist hier ein verzweifelter Vorwurf hervor, den er gerade noch zurückhalten kann (standardmäßig eingeleitet mit „Wie lange (denn noch)...?“, s. z.B. [[Psalm 13#s2 |Ps 13,2f]]; [[Psalm 74#s10 |Ps 74,10]]; [[Psalm 80#s5 |Ps 80,5]]; [[Psalm 94#s3 |Ps 94,3]]; [[Habakkuk 1#s2 |Hab 1,2]]; ebenso abgebrochen in [[Psalm 90#s13 |Ps 90,13]]). Daher ist auch das einleitende „und du,“ nicht zu übersetzen: Im Hebräischen dient ''wä´atta'' („und du“) oft nur als sog. „Diskurspartikel“, die Emphase auf einen bittenden oder befehlenden Diskursabschnitt legen soll (vgl. ähnlich z.B. Lyavdansky 2012, S. 19f; s. z.B. [[Psalm 22#s20 |Ps 22,20]]; [[Psalm 42#s11 |42,11]]; [[Psalm 55#s24 |55,24]]; [[Psalm 59#s6 |59,6]]; [[Psalm 109#s21 |109,21]] u.ö.); hier legt sie also Emphase auf die begonnene Klage und verstärkt so zusätzlich die Wirkung des Satzabbruchs. Stilistisch daher am Besten: „Ach, JHWH, wie lange denn noch...!?“</ref>{{par|Psalm|13|2|3}}{{par|Psalm|90|13}}{{par|Jesaja|57|16}}<br />
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_{{S|4}} Und meine Seele (mein Leben) ist sehr erschrocken (vergeht sehr)<ref name="vergehen" />.  
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Und du, JHWH, wie lange [noch] (bis wann)...?<ref>''Und du, JHWH, wie lange [noch]...?'' - Beinahe bricht aus dem Psalmist hier ein verzweifelter Vorwurf hervor, den er gerade noch zurückhalten kann (Aposiopese). Das ist daran erkennbar, dass solche Vorwürfe anderswo im AT mit „Wie lange (denn noch)...?“ eingeleitet sind (Beispiele: [[Psalm 13#s2|Ps 13,2f]]; [[Psalm 74#s10|Ps 74,10]]; [[Psalm 80#s5|Ps 80,5]]; [[Psalm 94#s3|Ps 94,3]]; [[Habakkuk 1#s2|Hab 1,2]]; ebenso abgebrochen in [[Psalm 90#s13 |Ps 90,13]]).</ref>{{par|Psalm|13|2|3}}{{par|Psalm|90|13}}{{par|Jesaja|57|16}}<br /></poem>
  
  
{{S|5}} Kehre um, JHWH!<ref>''Kehre um, JHWH'' - Begegnendes Unheil führte man im Alten Israel oft darauf zurück, dass der zornige Gott sich von Betroffenen „abgewandt“ habe; entsprechend ist „Wende dich [mir wieder zu]“ hier gleichbedeutend mit „Sei mir gnädig“ in V. 3. Sinnvoll daher Buttenwieser 1938: „Cease from thine anger!“; GN: „Lass ab von deinem Zorn!“</ref> Rette<ref name="retten">''Rette'' + ''Errette (hilf)'' - Wortspiel im Hebräischen: Der Psalmist verwendet in Vv. 3.5 drei unterschiedliche Verben, die sich alle in der Bedeutung „retten“ treffen. Den beiden Verben in V. 5 ist zusätzlich die Bedeutung „herausziehen /-reißen“ gemeinsam. Dahinter steht folgendes: Im Alten Israel stellte man sich die Unterwelt als den tiefsten Ort des Kosmos vor; daher sprach man von ihr z.B. als dem „Brunnen“, der „Grube“, dem „Schacht“ oder der „Zisterne“ (vgl. z.B. Oesterley 1911, S. 139f; Schorch 2000, S. 97f) und davon, dass man zu ihr „hinabstieg“ oder aus ihr wieder „emporgezogen“ wurde. Von diesem Totenreich spricht V. 6; liest man also Vv. 5 und 6 zusammen, entsteht - gelesen nach dieser zweiten Bedeutung - der Eindruck, der Psalmist habe sich sogar bereits in diesem Totenreich befunden und JHWH habe ihn nach seinem Tod wiederbelebt. Diese hyperbolische Aussage, man sei bereits gestorben und JHWH habe den den Psalmisten wiederbelebt, findet sich häufig in den Psalmen, s. z.B. [[Psalm 9#s14 |Ps 9,14]]; [[Psalm 18#s5 |18,5-7]]; [[Psalm 30#s4 |30,4]]; [[Psalm 116#s3 |116,3-6]]; doch ist das nicht wörtlich zu verstehen (Insgesamt finden sich in Vv. 3-5.7f keine Anhaltspunkte dafür, worin das Leid des Psalmisten eigentlich bestand, denn alle dortigen Aussagen sind in den Psalmen (nur) häufige Bilder für Leid im Allgemeinen).</ref> meine Seele (mich)<ref>''meine Seele (mich)'' - „Seele“ im Heb. fast stets Wechselbegriff für „Ich“; übersetze: „Rette ''mich''!“</ref>!{{par|Psalm|80|15}}{{par|Psalm|86|13}}{{par|Psalm|90|13}}{{par|Psalm|116|3|4}}{{par|Jesaja|38|17}}{{par|Maleachi|3|7}}<br />
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: Errette (hilf)<ref name="retten" /> mich um deiner Barmherzigkeit (Huld, Liebe, Güte) willen<ref>''um deiner Huld willen'' - mehrdeutig: (1) Entweder ''läma`an'' („um...willen“) ''rationis impellentis'', mit dem der Beweggrund bezeichnet wird, aus dem jemand etwas tut (s. [[Psalm 25#s27 |Ps 25,7]]; [[Psalm 44#s27 |44,27]] (wie hier): „um deiner Huld/Barmherzigkeit willen“ = „aus Huld“; [[Psalm 143#s11 |Ps 143,11]]: „um deiner Gerechtigkeit willen“ = „aus Gerechtigkeit“; wohl auch [[Psalm 23#s3 |Ps 23,3]]; [[Psalm 25#s11 |25,11]]; [[Psalm 79#s9 |79,9]]; [[Psalm 106#s8 |106,8]]; [[Psalm 109#s21 |109,21]]; [[Psalm 143#s11 |143,11]]; [[Jeremia 14#s7 |Jer 14, 7.21]]: „um deines (herrlichen) Namens willen“=„weil du der (Herrliche) bist, der du bist“, vgl. TDOT XV, S. 174; Bratcher/Reyburn 1991, S. 233); vgl. ''ad loc.'' Bratcher/Reyburn 1991, S.61; TWAT I, S. 605f. Dieses ''läma`an rationis impellentis'' wird fast stets verwendet, um an diesen Charakterzug Gottes zu appellieren; funktional entspräche dem im Dt. daher eher „Errette mich, du Barmherziger“, wie z.B. häufig Fürbitten formuliert sind.<br />
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{{S|5}} Kehre um, JHWH!<ref>''Kehre um, JHWH'' - Begegnendes Unheil führte man im Alten Israel oft darauf zurück, dass der zornige Gott sich von Betroffenen „abgewandt“ habe; entsprechend ist „Wende dich [mir wieder zu]“ hier gleichbedeutend mit „Sei mir gnädig“ in V. 3. Sinnvoll daher Buttenwieser 1938: „Cease from thine anger!“; GN: „Lass ab von deinem Zorn!“</ref> Rette<ref name="retten">''Rette'' + ''Errette (hilf)'' - Wortspiel im Hebräischen: Der Psalmist verwendet in Vv. 3.5 drei unterschiedliche Verben, die sich alle in der Bedeutung „retten“ treffen. Den beiden Verben in V. 5 ist zusätzlich die Bedeutung „herausziehen /-reißen“ gemeinsam. Dahinter steht Folgendes: Im Alten Israel stellte man sich die Unterwelt als den tiefsten Ort des Kosmos vor; daher sprach man von ihr z.B. als dem „Brunnen“, der „Grube“, dem „Schacht“ oder der „Zisterne“ (vgl. z.B. Oesterley 1911, S. 139f; Schorch 2000, S. 97f) und davon, dass man zu ihr „hinabstieg“ oder aus ihr wieder „emporgezogen“ wurde. Von diesem Totenreich spricht V. 6; liest man also Vv. 5 und 6 zusammen, entsteht - gelesen nach dieser zweiten Bedeutung - der Eindruck, der Psalmist habe sich sogar bereits in diesem Totenreich befunden und JHWH habe ihn nach seinem Tod wiederbelebt.</ref> meine Seele (mich)<ref>''meine Seele (mich)'' - „Seele“ im Heb. fast stets Wechselbegriff für „Ich“; übersetze: „Rette ''mich''!“</ref>!{{par|Psalm|80|15}}{{par|Psalm|86|13}}{{par|Psalm|90|13}}{{par|Psalm|116|3|4}}{{par|Jesaja|38|17}}{{par|Maleachi|3|7}}<br />
(2) ''chesed'' (hier: „Barmherzigkeit“) meint häufig die „Bündnistreue“ und wird derart nicht nur von Gott ausgesagt, der mit den Menschen seinen Bund geschlossen hat, sondern auch von den Menschen, mit denen Gott diesen Bund geschlossen hat (s. z.B. [[Hosea 12#s7 |Hos 12,7]]). ''läma`an chasdeka'' ließe sich daher auch übersetzen als „um [meiner] Bündnistreue zu dir willen“, und V. 6 würde dann näher spezifizieren, was damit gemeint ist: Der Psalmist könnte im Totenreich seiner Bündnispflicht des JHWH-Preises nicht nachkommen - es läge also ganz im Interesse Gottes, den Psalmisten zu retten. So aber nur Broyles 1989, S. 182f; Ehrlich 1905, S. 11.<br />Deutung (1) liegt näher, da - wie an den angeführten Stellen zu sehen ist - dieses ''läma`an [Charakterzug Gottes]'' ein häufiger Zug in Bitten ist; es könnte aber auch hier sein, dass bewusst mehrdeutig formuliert ist und auf diese kunstvolle Weise gleich zwei Gründe für JHWHs Rettungshandeln vorgebracht werden sollen.</ref>!{{par|Psalm|25|7}}{{par|Psalm|44|27}}{{par|Psalm|69|14}}{{par|Daniel|9|18}}
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_Errette (hilf)<ref name="retten" /> mich um deiner Barmherzigkeit (Huld, Liebe, Güte) willen<ref>''um deiner Barmherzigkeit (Huld, Liebe, Güte) willen'' - mehrdeutig:  
{{S|6}} Denn (Fürwahr!,) nicht [ist (findet statt)] im Totenreich<ref name="Scheol">''Totenreich'' + ''Scheol'': Nicht: „Hölle“ o.Ä., die alttestamentliche Vorstellung vom Leben nach dem Tod ist eine ganz andere als die christliche und eher mit der griechischen Vorstellung des Hades zu vergleichen: Ein Schattenreich, in das fast alle Gestorbenen als Schattengestalten hinabfahren, um dann nie wieder daraus zu entkommen. Einige übersetzen gelegentlich auch „Hades“; vielleicht ist das eine verständlichere Alternative?</ref> ein dich-Loben (Gedenken an dich)<br />
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# Das Wort für „um...willen“ hat zwar (1) meist auch im Heb. die Bed. „um...willen“, kann aber (2) auch den ''Beweggrund'' bezeichnen, aus dem jemand etwas tut (s. z.B. [[Psalm 25#s27 |Ps 25,7]]; [[Psalm 44#s27 |44,27]]: „um deiner Huld/Barmherzigkeit willen“ = „aus Huld“<!--; [[Psalm 143#s11 |Ps 143,11]]: „um deiner Gerechtigkeit willen“ = „aus Gerechtigkeit“; wohl auch [[Psalm 23#s3 |Ps 23,3]]; [[Psalm 25#s11 |25,11]]; [[Psalm 79#s9 |79,9]]; [[Psalm 106#s8 |106,8]]; [[Psalm 109#s21 |109,21]]; [[Psalm 143#s11 |143,11]]; [[Jeremia 14#s7 |Jer 14, 7.21]]: „um deines (herrlichen) Namens willen“=„weil du der (Herrliche) bist, der du bist“, vgl. TDOT XV, S. 174; Bratcher/Reyburn 1991, S. 233-->; vgl. ''ad loc.'' Bratcher/Reyburn 1991, S.61; THAT I, S. 605f) und wird in dieser Bedeutung fast stets verwendet, um an einen Charakterzug Gottes zu appellieren; funktional entspräche dem im Dt. daher eher „Errette mich, du Barmherziger“, wie z.B. häufig Fürbitten formuliert sind.  
: und im Scheol<ref name="Scheol" /> - wer wird dich preisen?<ref>Der Sinn von V. 6 ist umstritten. Die naheliegendste Deutung ist, dass tatsächlich mit dem Argument an JHWH appelliert wird, er möge doch den Psalmisten retten, denn mit dessen Tod verlöre er ja einen Anbeter. Weil vielen Exegeten eine solch „egoistische“ Gottesvorstellung nicht angenehm ist, schlagen sie als Alternative vor, der Psalmist sehne sich zurück in die Gottesdienstgemeinde, in deren Reihen er sich sonst JHWHs erinnerte und ihn pries (so z.B. Achtemeier 1974, S. 84f; Podechard 1920, S. 46) oder dass er sich schlicht nach dem „grösste[n] Glück, das ein Frommer haben kann, das Glück, [s]eine Grossthaten zu preisen“ sehne (Duhm 1899, S. 21). Das ist unnötig, die naheliegendere Deutung findet sich noch häufiger in der Bibel (s. z.B. [[Psalm 30#s10 |Ps 30,10]]; [[Psalm 88#s11 |88,11-13]]; [[Jesaja 38#s17 |Jes 38,17f]]) und das Argument wird in [[Jesaja 48#s9 |Jes 48,9-11]] sogar ähnlich von JHWH selbst angewandt.</ref>{{par|Psalm|30|10}}{{par|Psalm|88|11|13}}{{par|Psalm|115|17}}{{par|Psalm|118|17}}{{par|Jesaja|38|17|18}}
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# ''chesed'' (hier: „Barmherzigkeit“) meint häufig die „Bundestreue“ und wird derart nicht nur von Gott ausgesagt, der mit den Menschen seinen Bund geschlossen hat, sondern auch von den Menschen, mit denen Gott diesen Bund geschlossen hat (s. z.B. [[Hosea 12#s7 |Hos 12,7]]). ''läma`an chasdeka'' ließe sich daher auch übersetzen als „um [meiner] Bundestreue zu dir willen“, und V. 6 würde dann näher spezifizieren, was damit gemeint ist: Der Psalmist könnte im Totenreich seiner Bündnispflicht des JHWH-Preises nicht nachkommen - es läge also ganz im Interesse Gottes, den Psalmisten zu retten. So aber nur Broyles 1989, S. 182f; Ehrlich 1905, S. 11.
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Deutung (1) liegt näher, da - wie an den angeführten Stellen zu sehen ist - dieses ''läma`an [Charakterzug Gottes]'' ein häufiger Zug in Bitten ist; es könnte aber auch hier sein, dass bewusst mehrdeutig formuliert ist und auf diese kunstvolle Weise gleich zwei Gründe für JHWHs Rettungshandeln vorgebracht werden sollen.</ref>!
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{{S|6}} Denn es ist kein (findet nicht statt) dich-Loben (Gedenken an dich) im Totenreich (Tod)<ref name="Scheol">''Totenreich'' + ''Scheol'': Nicht: „Hölle“ o.Ä., die alttestamentliche Vorstellung vom Leben nach dem Tod ist eine ganz andere als die christliche und eher mit der griechischen Vorstellung des Hades zu vergleichen: Ein Schattenreich, in das fast alle Gestorbenen als Schattengestalten hinabfahren, um dann nie wieder daraus zu entkommen.</ref><br />
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_Und wer wird dich preisen im Scheol?<ref name="Scheol" /><ref>Zum Argument in ''V. 6'', JHWH möge doch den Psalmisten retten, weil er mit dessen Tod ja einen Anbeter verlöre, s. z.B. [[Psalm 30#s10 |Ps 30,10]]; [[Psalm 88#s11 |88,11-13]]; [[Jesaja 38#s17 |Jes 38,17f]]) und das Argument wird in [[Jesaja 48#s9 |Jes 48,9-11]] sogar ähnlich von JHWH selbst angewandt.</ref></poem>
  
  
{{S|7}} Ich bin ermüdet durch mein Schluchzen (Seufzen)<ref>'''tN''': ''Schluchzen'' statt „Seufzen“ gut nach Dahood 1965; Houston/Moore/Waltke 2014; BBE, EVD, NCV, NLT. Sowohl beim Verb als auch beim Nomen passt diese Bedeutung an sämtlichen Stellen wesentlich besser.</ref>,<br />
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: ich überflute (lasse schwimmen)<ref name="Verben V 7">'''tN''': ''überflute (lasse schwimmen)'' +  
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{{S|7}} Ich bin ermüdet durch mein Schluchzen (Seufzen),<ref group="Text">'''tFN''': ''Schluchzen'' trifft es besser als das häufig gefundene „Seufzen“. Sowohl beim Verb als auch beim Nomen passt diese Bedeutung an sämtlichen Stellen wesentlich besser. So ''z. St.'' Dahood 1965; Houston/Moore/Waltke 2014; BBE, EVD, NCV, NLT. </ref>{{par|Jeremia|45|3}}<br />
''weiche auf'' - zur Deutung der Bedeutung des ersten Verbs als „überfluten“ statt „schwimmen lassen“ vgl. Bosworth 2013, S. 39; von Soden 1991, S. 165f; zur Deutung des zweiten Verbs als „aufweichen“ von Soden 1991, S. 166.</ref> jede Nacht<ref>'''tN''': ''jede Nacht'' statt „die ganze Nacht“; diese iterative Deutung fordert die Verbform (Yiqtol).</ref> [mit meinen Tränen]<ref>'''tN''': ''[mit meinen Tränen]'' - Brachylogie aus Zeile 3; vgl. auch Goldingay 2006, S. 138.</ref> mein Bett,<br />
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_ich überflute (lasse schwimmen)<ref group="Text" name="Verben V 7">'''tFN''': ''überflute (lasse schwimmen)'' +  
: mit meinen Tränen weiche ich [jede Nacht]<ref>'''tN''': ''[jede Nacht]'' - Brachylogie aus Zeile 2; vgl. auch Goldingay 2006, S. 138.</ref> mein Lager auf<ref name="Verben V 7" />.
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''weiche auf'' - zur Deutung der Bedeutung des ersten Verbs als „überfluten“ statt „schwimmen lassen“ vgl. Bosworth 2013, S. 39; von Soden 1991, S. 165f; zur Deutung des zweiten Verbs als „aufweichen“ von Soden 1991, S. 166.</ref> jede Nacht<ref group="Text">'''tFN''': ''jede Nacht'' statt „die ganze Nacht“; diese iterative Deutung fordert die Verbform (Yiqtol).</ref> [mit meinen Tränen]<ref group="Text">'''tFN''': ''[mit meinen Tränen]'' - Brachylogie aus Zeile 3; vgl. auch Goldingay 2006, S. 138.</ref> mein Bett,<br />
{{S|8}} Schwach geworden (dunkel geworden, geeitert, angeschwollen, hochmütig?)<ref>''Schwach geworden (dunkel geworden, geeitert, angeschwollen, hochmütig?)'' - Bed. unsicher (-> Ter legomenon); sonst nur noch in [[Psalm 31#s10 |Ps 31,10f]] (gesagt vom Auge, der Seele, dem Leib und den Knochen; ebenso wie hier mit „Trauer“ zusammenhängend). Für eine Übersicht über ältere Deutungen vgl. Zolli 1951.
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_mit meinen Tränen weiche ich [jede Nacht]<ref group="Text">'''tFN''': ''[jede Nacht]'' - Brachylogie aus Zeile 2; vgl. auch Goldingay 2006, S. 138.</ref> mein Lager auf.<ref name="Verben V 7" />
# Früher wurde es meist abgeleitet von ''`asch'' („Motte“), dann: „Mein Auge ist vor Kummer ''mottenzerfressen'' = zerstört“, aber richtig Ehrlich 1905, S. 12: „Es ist wahrlich Zeit, dass man jede Erklärung ohne weiteres als albern verwerfe, die in ausgewählten klassischen Gedichten [...] die Möglichkeit von Bildern, wie ein mottenstichiges und durch Feinde gealtertes Auge, voraussetzt.“ So aber dennoch noch heute einige Exegeten.
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{{S|8}} Schwach geworden (dunkel geworden, geeitert, angeschwollen, hochmütig?)<ref>''Schwach geworden (dunkel geworden, geeitert, angeschwollen, hochmütig?)'' - Bed. unsicher (-> Tris legomenon); sonst nur noch in [[Psalm 31#s10 |Ps 31,10f]]. Für eine Übersicht über ältere Deutungen vgl. Zolli 1951; am sinnvollsten abzuleiten von arab. ''ghatha'' („dünn/schwach werden; eitern“; vgl. z.B. Klein 1987, S. 489); daher: „Mein Auge ist schwach geworden (ZLH 635) / geeitert (Lambert 1899, S. 1899, S. 393)“. Zum Sinn vgl. [http://www.offene-bibel.de/wiki/index.php5?title=Psalm_13#note_j FN j] zu [[Psalm 13#s5 |Ps 13,5]].</ref> vor Kummer (Gram) sind meine Augen,<ref group="Text">'''tFN''': ''meine Augen'' - W. „mein Auge“; kollektiver Singular, vgl. z.B. Houston/Moore/Waltke 2014, S. 51.</ref>{{par|Ijob|17|7}}{{par|Psalm|31|10}}{{par|Psalm|69|4}}{{par|Psalm|88|10}}<br />
# Sinnvoller daher abzuleiten (-> Etymologie) von arab. ''ghaththa'' („dünn/schwach werden; eitern“; vgl. z.B. Klein 1987, S. 489); dann: „Mein Auge ist schwach geworden (ZLH 635) / geeitert (Lambert 1899, S. 1899, S. 393)“. Zum Sinn vgl. [http://www.offene-bibel.de/wiki/index.php5?title=Psalm_13#note_j FN j] zu [[Psalm 13#s5 |Ps 13,5]].
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_Ich bin gealtert wegen (sie sind gealtert wegen)<ref>'''Textkritik''': ''ich bin gealtert wegen (sie sind gealtert wegen)'' - Heb. „sie sind gealtert“; die Rede von den „gealterten Augen“ aber ist recht schwierig. Viele übersetzen daher freier als „sind schwach/matt geworden“ (vgl. auch hier zum Sinn [http://www.offene-bibel.de/wiki/index.php5?title=Psalm_13#note_j FN j] zu [[Psalm 13#s5 |Ps 13,5]]), was aber wohl nicht in der Wortbedeutung liegen kann. LXX, Syr, Aq, Sym, Hier hatten offenbar einheitlich stattdessen den Text „''ich'' bin gealtert“ vorliegen; diese Lesart ist sicher vorzuziehen.</ref> all meiner Feinde (wegen all meinem Leid/meiner Not<!--<ref>''meinem Leid/meiner Not'' - Bertholet, Gunkel, Schlögl, Schmidt und Kraus wollen - da ihnen das auf „Kummer“ folgende „Feinde“ merkwürdig scheint (so auch Bratcher/Reyburn 1991, S.63) - emendieren von ''tsoräraj'' („meine Feinde“) nach ''tsarati'' („mein Leid“). Das wäre wohl nicht einmal notwendig, da auch schon ''tsoräraj'' „mein Leid“ bedeuten könnte (so richtig Kissane 1953, S. 22f; vgl. schon Saadia: „viele meiner Leiden“); doch so und so ist „meine Feinde“ vorzuziehen - erstens, da in verwandten Psalmen ([[Psalm 22 |Ps 22]]; [[Psalm 38 |38]]; [[Psalm 41 |41]]; [[Psalm 102 |102]]) die „Feinde“ die selbe Rolle spielen (so schon Podechard 1920, S. 47) und da der Parallelismus von Wirkung (d.h. hier: „Kummer“) und Ursache (d.h. hier: „all meine Feinde“) recht häufig ist.<br />
# Zu den Alternativen „dunkel werden“ vgl. Jacob 1902, S. 107 (so auch Tg); zu „anschwellen“ Delekat 1964; auch KBL3, S. 850<!-- aber `etsem heißt nicht "Glieder" und geschwollene Glieder sind nicht charakteristisch für Hungerödeme (so Delekat), so dass das bei Ps 31,11 doch nicht funktioniert -->; zu „hochmütig“ Zolli 1951, der außerdem zw. V. 7 und 8 einen neuen Abschnitt beginnen lassen, vermutlich das „durch Kummer“ als „nach dem Kummer“ und das folgende „alt werden“ als „frech/stolz [blicken]“ (?) deuten will.</ref> vor Kummer (Gram) sind meine Augen<ref>'''tN''': ''meine Augen'' - W. „mein Auge“; kollektiver Singular, vgl. z.B. Houston/Moore/Waltke 2014, S. 51.</ref>,<br />
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Vielleicht aber auch Amphibolie und so eine Art Janus-Parallelismus: Das Wort wäre dann sowohl in der Bedeutung „mein Leid“ und in der Bedeutung „meine Feinde“ zu lesen; nach der ersten Bedeutung wäre der Sticho parallel zur vorangehenden Zeile, nach der zweiten Bedeutung würde er den Übergang zur dritten Strophe bereiten.</ref>-->).</poem>
: sie sind gealtert wegen (ich bin gealtert wegen, sie sind geheftet auf?, sie [blicken] stolz/frech auf?)<ref>''sie sind gealtert wegen (ich bin gealtert wegen, sie sind geheftet auf?, sie [blicken] stolz/frech auf?)'' - „altern“ ist recht schwierig - erstens als Deutung der Wortbedeutung, zweitens in diesem Kontext. Sehr viele übersetzen daher freier als „sind schwach/matt geworden“, was aber wohl nicht in der Wortbedeutung liegen kann (als kommunikative Übersetzung aber sinnvoll ist; vgl. auch hier zum Sinn [http://www.offene-bibel.de/wiki/index.php5?title=Psalm_13#note_j FN j] zu [[Psalm 13#s5 |Ps 13,5]]). Deissler, Kissane, Nötscher, Schmidt und Zorell wollen mit LXX, Aq, Sym, Hier, Syr emendieren zu „''ich'' bin gealtert“, aber dass Feinde „mich“ altern lassen haben sollten ist ja genau so schwierig wie dass sie „meine Augen“ altern lassen haben sollten. Zu „geheftet auf“ vgl. Ehrlich 1905; ebenso schon Saadia; zu „[blicken] stolz/frech“ Zolli 1951 - doch keiner von beiden Vorschlägen hat Anklang in der Exegese gefunden. Man wird wohl bei den „gealterten Augen“ bleiben müssen.</ref> all meiner Feinde (wegen all meinem Leid/meiner Not<ref>''meinem Leid/meiner Not'' - Bertholet, Gunkel, Schlögl, Schmidt und Kraus wollen - da ihnen das auf „Kummer“ folgende „Feinde“ merkwürdig scheint (so auch Bratcher/Reyburn 1991, S.63) - emendieren von ''tsoräraj'' („meine Feinde“) nach ''tsarati'' („mein Leid“). Das wäre wohl nicht einmal notwendig, da auch schon ''tsoräraj'' „mein Leid“ bedeuten könnte (so richtig Kissane 1953, S. 22f; vgl. schon Saadia: „viele meiner Leiden“); doch so und so ist „meine Feinde“ vorzuziehen - erstens, da in verwandten Psalmen ([[Psalm 22 |Ps 22]]; [[Psalm 38 |38]]; [[Psalm 41 |41]]; [[Psalm 102 |102]]) die „Feinde“ die selbe Rolle spielen (so schon Podechard 1920, S. 47) und da der Parallelismus von Wirkung (d.h. hier: „Kummer“) und Ursache (d.h. hier: „all meine Feinde“) recht häufig ist.<br />
 
Vielleicht aber auch Amphibolie und so eine Art Janus-Parallelismus: Das Wort wäre dann sowohl in der Bedeutung „mein Leid“ und in der Bedeutung „meine Feinde“ zu lesen; nach der ersten Bedeutung wäre der Sticho parallel zur vorangehenden Zeile, nach der zweiten Bedeutung würde er den Übergang zur dritten Strophe bereiten.</ref>).{{par|Psalm|31|10}}{{par|Matthäus|26|38}}{{par|Lukas|18|7}}
 
  
  
{{S|9}} Weicht von mir, alle Frevler<ref>''Frevler'' - stehende Wendung im Hebräischen; W.: „alle Tuenden von Frevel“.<br />
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<poem>
Erst in diesem Vers wird offenbar, was eigentlich genau das Leid ist, das der Beter die vorigen acht Verse hindurch beklagt hat: Er wird von frevlerischen Feinden bedrängt.</ref>!<br />
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{{S|9}} Weicht von mir, all [ihr] Frevler<ref>''Frevler'' - stehende Wendung im Hebräischen; W.: „alle Tuenden von Frevel“.<br />
{Ja!,} (denn)<ref>'''tN''': ''{<s>Ja!,</s>} (denn)'' - emphatisches ''ki'', im Dt. nicht zu übersetzen.</ref> gehört (erhört) hat JHWH den Klang meines Weinens<ref name="Gebet">''Klang meines Weinens'' + ''Flehen'' + ''Gebet (Bittgebet)'' - Die Aufeinanderfolge dieser drei Begriffe verdichtet ein Voranschreiten von unartikuliert nach artikuliert: ''qol'' („Klang“) bezeichnet primär das rein Akkustische, das „Geräusch“ - der „Klang des Weinens“ sind also die unartikulierten Klagelaute. ''tähinna'' („Flehen“) meint den Akt der bittenden Hinwendung im Gebet, und ''täfilla'' ist eine Psalm-''gattung'' - das „Bitt-/Klagegebet“.</ref>,<br />
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Erst in diesem Vers wird offenbar, was eigentlich genau das Leid ist, das der Beter die vorigen acht Verse hindurch beklagt hat: Er wird von frevlerischen Feinden bedrängt.</ref>!{{par|Psalm|52|3|7}}{{par|Psalm|119|115}}{{par|Psalm|139|19}}{{par|Matthäus|25|41}}{{par|Lukas|13|27}}<br />
: {{S|10}} Gehört (erhört) hat JHWH mein Flehen<ref name="Gebet" />;<br />
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{Ja!,} (denn)<ref group="Text">'''tFN''': ''{<s>Ja!,</s>} (denn)'' - emphatisches ''ki'', im Dt. nicht zu übersetzen.</ref> gehört (erhört) hat JHWH den Klang meines Weinens<ref name="Gebet">''Klang meines Weinens'' + ''Bitten'' + ''Gebet (Bittgebet)'' - Die Aufeinanderfolge dieser drei Begriffe verdichtet eine Progression von unartikuliert nach artikuliert: ''qol'' („Klang“) bezeichnet primär das rein Akustische (das „Geräusch“) – der „Klang des Weinens“ sind also die unartikulierten Klagelaute –; ''tehinna'' („Bitten“) meint den Akt der flehenden Hinwendung im Gebet und ''täfilla'' ist eine Psalm''gattung'' das „Bitt-/Klagegebet“.</ref>,{{par|Psalm|31|23}}{{par|Psalm|56|9}}<br />
: JHWH wird mein Gebet (Bittgebet)<ref name="Gebet" /> annehmen<ref>Oder:<br />
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_{{S|10}} Gehört (erhört) hat JHWH mein Bitten<ref name="Gebet" />;<br />
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_JHWH wird mein Gebet (Bittgebet)<ref name="Gebet" /> annehmen<ref>''JHWH wird mein Gebet annehmen'' - Oder Vergangenheit:<br />
 
''Gehört hat JHWH den Klang meines Weinens,''<br />
 
''Gehört hat JHWH den Klang meines Weinens,''<br />
: ''Gehört hat JHWH mein Flehen,''<br />
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: ''Gehört hat JHWH mein Bitten,''<br />
: ''JHWH hat mein Gebet erhört.''<br />
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: ''JHWH hat mein Gebet angenommen.''<br />
Der Tempuswechsel in V. 10b wäre dann ein bedeutungsloser T-Shift (so z.B. de Hoop 2009, S. 458f.) und man müsste davon ausgehen, dass zwischen Vv. 2-8 und Vv. 9-11 eine gewisse Zeitspanne vergangen ist, in der JHWH die Bitte des Psalmisten gewähren konnte (so z.B. Schmidt 1934, S. 11). Aber wesentlich glatter ist es doch, die beiden „Gehört hat“ als Vergangenheit zu fassen und das „Annehmen wird“ als Futur: Der Psalmist hat sein Gebet gesprochen und kann sich nun voll Zuversicht gegen seine Feinde wenden, da er sich sicher sein kann, bald von Gott erhört zu werden (so z.B. Alter 2007; Olshausen 1853; Perowne 1880; zum Motiv dieser Erhörungsgewissheit in Klagepsalmen vgl. am besten Markschies 1991 und Janowski 2001). Aus diesem Grund ist in Vv. 9b.10a ''schama´'' auch als „gehört“ statt „erhört“ zu fassen (so gut z.B. schon Duhm 1899, S. 22).</ref>:
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Der Tempuswechsel in V. 10b wäre dann ein bedeutungsloser, rein stilistischer Tempuswechsel (-> T-Shift; so z.B. de Hoop 2009, S. 458f.; NET) und man müsste davon ausgehen, dass zwischen Vv. 2-8 und Vv. 9-11 eine gewisse Zeitspanne vergangen ist, in der JHWH die Bitte des Psalmisten gewähren konnte (so z.B. Schmidt 1934, S. 11). Aber wesentlich glatter ist es doch, die beiden „Gehört hat“ als Vergangenheit zu fassen und das „Annehmen wird“ als Futur: Der Psalmist hat sein Gebet gesprochen und Gott hat es ''ge''hört, und nun kann sich der Psalmist voll Zuversicht gegen seine Feinde wenden, da er sich sicher sein kann, nun auch bald von Gott ''er''hört zu werden (so z.B. Alter 2007; Duhm 1899, S. 22; Olshausen 1853; Perowne 1880).</ref>:
{{S|11}} All meine Feinde werden sich schämen (zunichte werden)<ref name="V 11">''sich schämen (zunichte werden)'' + ''erschrecken (vergehen)'' + ''zurückweichen (wieder?, sterben?)'' - Wortspiel im Hebräischen: Die Wörter für „schämen“, „erschrecken“ und evt. auch „zurückweichen“ (dazu vgl. Dahood 1965, S. 39; s. noch [[Ijob 1#s21 |Ijob 1,21]]; [[Ijob 30#s23 |30,23]]; [[Ijob 34#s15 |34,15]]; [[Psalm 9#s18 |Ps 9,18]]; [[Prediger 3#s20 |Pred 3,20]]; [[Pred 12#s7 |12,7]] - doch nie (wie hier) ohne Ortsangabe) treffen sich in der sekundären Bedeutung „sterben“; es scheint also, als habe die Erhörung des Psalmisten durch Gott die Vernichtung der Feinde zur Folge (vgl. z.B. die Üs. von Achenbach 2004, S. 584: „Zuschanden und zerstieben gar sehr werden all meine Feinde“). Primär ist aber wohl eher eine Umkehrung der Verhältnisse gedacht: Die Feinde, die den Psalmisten jetzt noch bedrängen, werden sich nach JHWHs Erhörung „schämen“, und so, wie in Vv. 3f der Psalmist „sehr erschrocken“ ist, werden dann die ''Feinde'' „sehr erschrocken“ sein und gleich einem geschlagenen Heer „zurückweichen“. So auch fast sämtlich Kommentare und Üss.<br />''Zurückweichen'' ließe sich außerdem theoretisch mit „wieder“ übersetzen: „Sie werden sich plötzlich wieder schämen“ (so z.B. Duhm 1899), doch das ist unwahrscheinlich. Nicht: „beschämt umkehren“; im verbalen Hendiadyoin spezifiziert das erste das zweite Verb, nicht aber umgekehrt.</ref> und sehr erschrecken (vergehen)<ref name="V 11" />,<br />
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{{S|11}} All meine Feinde werden (sollen) sich schämen (zunichte werden)<ref name="V 11">''sich schämen (zunichte werden)'' + ''erschrecken (vergehen)'' + ''umkehren (von mir ablassen, wieder?, sterben?)'' - Wortspiel im Hebräischen: Die Wörter für „schämen“, „erschrecken“ und evt. auch „zurückweichen“ treffen sich in der sekundären Bedeutung „sterben“; es scheint also, als habe die Erhörung des Psalmisten durch Gott die Vernichtung der Feinde zur Folge (vgl. z.B. die Üs. von Achenbach 2004, S. 584: „Zuschanden und zerstieben gar sehr werden all meine Feinde“; zu „zurückweichen“ vgl. Dahood 1965, S. 39; s. noch [[Ijob 1#s21 |Ijob 1,21]]; [[Ijob 30#s23 |30,23]]; [[Ijob 34#s15 |34,15]]; [[Psalm 9#s18 |Ps 9,18]]; [[Prediger 3#s20 |Pred 3,20]]; [[Pred 12#s7 |12,7]] doch nie (wie hier) ohne Ortsangabe)). S. dazu noch die [[#Bemerkungen |Anmerkungen]].<br />''umkehren'': Gemeint ist wohl: Von mir ablassen und gleich einem geschlagenen Heer abziehen. Theoretisch ließe es sich außerdem mit „wieder“ übersetzen: „Sie werden sich plötzlich wieder schämen“ (so z.B. Duhm 1899), doch das ist unwahrscheinlich. Nicht: „beschämt umkehren“; im verbalen Hendiadyoin spezifiziert das erste das zweite Verb, nicht aber umgekehrt.</ref> und sehr erschrecken (vergehen)<ref name="V 11" />,{{par|Psalm|2|5}}{{par|Psalm|35|26}}{{par|Psalm|40|15|16}}{{par|Psalm|83|17|18}}<br />
: Sie werden umkehren (von mir ablassen, wieder?, sterben?)<ref name="V 11" /> [und] sich plötzlich schämen (zunichte werden)<ref name="V 11" />.
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_Sie werden (sollen) umkehren (von mir ablassen, wieder?, sterben?)<ref name="V 11" /> [und] sich plötzlich schämen (zunichte werden)<ref name="V 11" />.</poem>
  
 
{{Bemerkungen}}
 
{{Bemerkungen}}
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Psalm 6 gehört zur Gattung der sogenannten „Klagelieder eines Einzelnen“, genauer zu der der „Feindklagen eines Einzelnen“. Die meisten der typischen Bestandteile dieser Psalmgattung sind deutlich erkennbar:<br />
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'''V. 1''' ist die „Überschrift“. Diese wurden nachträglich von Redaktoren hinzugefügt; über ihren Sinn weiß man immer noch nichts Genaueres und auch die Bedeutung der einzelnen Vokabeln ist hier wie meist unklar. Doch da es sich um nachträgliche Hinzufügungen handelt, wirkt sich das glücklicherweise nicht allzu nachteilig auf das Verständnis des Psalms im Ganzen aus.<br />
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'''V. 2''' beginnt mit der sog. „Anrufung“ / „Invokation“, die einzig aus dem Gottesnamen besteht: „''JHWH!''“ - was typisch für die alttestamentliche, aber ungewöhnlich in der altorientalischen Literatur ist (vgl. z.B. Stummer 1922, S. 13).<br />
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Darauf folgt in '''Vv. 2-4''' zunächst vierfach die „Bitte“ - JHWH möge den Psalmisten „''nicht strafen''“, „''nicht züchtigen''“, ihm „''gnädig sein''“ und ihn „''retten''“. Daran schließen sich drei Gründe an, mit denen an JHWH appelliert wird: Der Beter „''ist schwach''“ und (zweimal:) „''ihm ist angst''“.<br />
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So sehr ist ihm angst, dass in V. 4b beinahe schon die „Klage“ aus ihm hervorbrechen will, die er jedoch noch zurückhalten kann, um in '''Vv. 5f''' einen weiteren „Bitt“-Abschnitt anfügen zu können: JHWH möge sich „''umwenden''“ (d.h. sich dem Beter gnädig zuwenden), ihn „''retten''“ und „''erretten''“. Und wieder fügt er gleich Argumente für dieses Rettungshandeln an: Er appelliert an JHWHs Barmherzigkeit und weist darauf hin: Sollte JHWH dem Beter nicht helfen und er gar sterben, so würde JHWH ja einen Anbeter verlieren, denn: „''Im Totenreich lobt man dich nicht''“.<br />
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<small>Diese beiden ersten Strophen sind durch Wortspiele kunstvoll gestaltet: Das „''schwach''“ in V. 3a meint genauer „so traurig, dass ich dem Tode nahe bin“; die doppelt verwendete Vokabel „''erschrecken''“ in Vv. 3b.4a kann auch „''vergehen''“ bedeuten und das „''rette mich''“ in V. 3b ist wörtlich „''Heile mich''“. Ähnlich bedeutet „''Retten''“ und „''Erretten''“ in V. 5 gleichzeitig „''Herausziehen''“. Beide Vokabeln wecken so die Assoziation, dass der Psalmist sich bereits in der Unterwelt befindet (s. [http://www.offene-bibel.de/wiki/index.php5?title=Psalm_6#note_h FN h]). V. 6 stellt den Bezug zur Unterwelt schließlich eindeutig her. Durch diese Wortspiele wird zwischen den Zeilen eine Entwicklung dargestellt: In Strophe 1 stellt sich der Psalmist dar als einer, der verschmachtet, dem Tod in Riesenschritten entgegeneilt; in Strophe 2 dann als jemand, der bereits gestorben ist und darauf wartet, dass Gott ihn auferweckt. Ähnliches findet sich noch häufiger in den Psalmen und darf nicht wörtlich verstanden werden. Das Sterben und Gestorbensein ist eine beliebte Metapher für ein sonst nicht näher bestimmtes Leid im Allgemeinen (s. z.B. [[Psalm 9#s14 |Ps 9,14]]; [[Psalm 18#s5 |18,5-7]]; [[Psalm 30#s4 |30,4]]; [[Psalm 116#s3 |116,3-6]] u.ö.). Bis hier lässt sich also noch nicht einmal erkennen, worunter der Psalmist eigentlich leidet.</small><br />
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In '''Vv. 7f''' folgt der Abschnitt der „Klage“: Die dreimalige Rede vom Weinen und die zweimalige von den schwach gewordenen Augen haben alle in etwa die selbe Bedeutung: Ihm geht es schlecht, furchtbar schlecht. Mit dem letzten Wort der dritten Strophe wird endlich ausgesprochen, worunter der Beter eigentlich leidet: Ihm geht es schlecht ''bäkol-tsoräraj'', „''wegen all meiner Feinde''“.<br />
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'''Vv. 9-11''': Doch kaum hat er diese Feinde genannt, sind sie schon kein Problem mehr: Selbstbewusst kann er ihnen entgegenrufen: „''Weicht von mir, alle Frevler!''“ Nachdem er sein Gebet gesprochen hat, ist er sich plötzlich sicher, dass all seine Feinde „''sich schämen''“, „''sehr erschrecken''“, „''umkehren''“ und „''sich plötzlich schämen''“ werden (V. 11). Auch dieser Stimmungsumschwung ist typisch für die Klagelieder des Einzelnen. Man nennt ihn das „Motiv der Erhörungsgewissheit“: Wie alle Klagelieder ist auch Psalm 6 aus einem „zielgerichteten Vertrauensparadigma“ (Markschies 1991, S. 397) gesprochen; der Beter kann sich sicher sein, dass JHWH ihn ''erhören'' (V. 10b) wird, sobald er sein Gebet „''gehört''“ (Vv. 9b.10a) hat. Und damit ist das Ziel des Psalmengebets erreicht: Betend hat er Gott auf sein Unglück hingewiesen und kann nun darauf vertrauen, dass dieser handeln wird.
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<small>Der letzte Vers ist stilistisch eng an die erste Strophe angelehnt: Wie nach V. 4a der Psalmist „''sehr erschrocken''“ ist, so werden nach V. 11a die Frevler „''sehr erschrecken''“. Und ebenso, wie in Vv. 3b.4a ungewöhnlicherweise dieselbe Vokabel wiederholt wird („''erschrecken''“), wird auch in Vv. 11ab dieselbe Vokabel wiederholt („''sich schämen''“). Selbst das Wortspiel wird wieder aufgegriffen: Mindestens „''sich schämen''“ und „''erschrecken''“, möglicherweise auch „''umkehren''“ (s. [[Psalm_6#note_y|FN y]]) könnten sich ebenso auf den Tod der Frevler beziehen, wie in der ersten Strophe „''schwach sein''“ und „''erschrecken''“ die Assoziation des Sterbens weckte. Es wird ganz deutlich: JHWHs Erhörung wird eine Umkehrung der Verhältnisse zur Folge haben. So wie aktuell der Beter unter den Frevlern zu leiden hat, werden dereinst die Frevler leiden.</small>
  
 
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Version vom 12. Juli 2018, 23:38 Uhr

Syntax OK

SF zuverlässig.png
Status: Zuverlässige Studienfassung – Die Übersetzung ist vollständig, erfüllt die Übersetzungskriterien und wurde mit einigen Standards der Qualitätssicherung abgesichert. Verbesserungen sind noch zu erwarten.
Kann-erstellt-werden.png
Status: Lesefassung kann erstellt werden – Wer möchte, ist zum Einstellen einer ersten Übertragung in die Lesefassung eingeladen, die später als Grundlage für Verbesserungen dient (Weitere Bibelstellen zum Übertragen). Auf der Diskussionsseite ist Platz für Rückfragen und konstruktive Anmerkungen.

Lesefassung (Psalm 6)

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Anmerkungen

Studienfassung (Psalm 6)

1 Für den Chorleiter (Dirigenten, Singenden, Musizierenden).
Zum Saitenspiel (auf Saiteninstrumenten) [vorzutragen] von Basstimmena
Ein Psalm (begleitetes Lied) von (für, über, nach Art von) David.


2 JHWH, nicht in deinem Zornb strafe (züchtige) mich

Und nicht in deinem Grimmb züchtige mich.

3 Sei mir gnädig (erbarme dich meiner), JHWH, denn ich [bin] schwach (ermattet)c.

Rette mich (heile mich), JHWH, denn erschrocken sind (es zittern, es vergehen)d meine Knochen (ich)d

4 Und meine Seele (mein Leben) ist sehr erschrocken (vergeht sehr)d.
Und du, JHWH, wie lange [noch] (bis wann)...?e


5 Kehre um, JHWH!f Retteg meine Seele (mich)h!

Errette (hilf)g mich um deiner Barmherzigkeit (Huld, Liebe, Güte) willeni!
6 Denn es ist kein (findet nicht statt) dich-Loben (Gedenken an dich) im Totenreich (Tod)j

Und wer wird dich preisen im Scheol?jk


7 Ich bin ermüdet durch mein Schluchzen (Seufzen),l

ich überflute (lasse schwimmen)m jede Nachtn [mit meinen Tränen]o mein Bett,

mit meinen Tränen weiche ich [jede Nacht]p mein Lager auf.m
8 Schwach geworden (dunkel geworden, geeitert, angeschwollen, hochmütig?)q vor Kummer (Gram) sind meine Augen,r

Ich bin gealtert wegen (sie sind gealtert wegen)s all meiner Feinde (wegen all meinem Leid/meiner Not).


9 Weicht von mir, all [ihr] Frevlert!

{Ja!,} (denn)u gehört (erhört) hat JHWH den Klang meines Weinensv,

10 Gehört (erhört) hat JHWH mein Bittenv;

JHWH wird mein Gebet (Bittgebet)v annehmenw:
11 All meine Feinde werden (sollen) sich schämen (zunichte werden)x und sehr erschrecken (vergehen)x,

Sie werden (sollen) umkehren (von mir ablassen, wieder?, sterben?)x [und] sich plötzlich schämen (zunichte werden)x.

Anmerkungen

Psalm 6 gehört zur Gattung der sogenannten „Klagelieder eines Einzelnen“, genauer zu der der „Feindklagen eines Einzelnen“. Die meisten der typischen Bestandteile dieser Psalmgattung sind deutlich erkennbar:
V. 1 ist die „Überschrift“. Diese wurden nachträglich von Redaktoren hinzugefügt; über ihren Sinn weiß man immer noch nichts Genaueres und auch die Bedeutung der einzelnen Vokabeln ist hier wie meist unklar. Doch da es sich um nachträgliche Hinzufügungen handelt, wirkt sich das glücklicherweise nicht allzu nachteilig auf das Verständnis des Psalms im Ganzen aus.
V. 2 beginnt mit der sog. „Anrufung“ / „Invokation“, die einzig aus dem Gottesnamen besteht: „JHWH!“ - was typisch für die alttestamentliche, aber ungewöhnlich in der altorientalischen Literatur ist (vgl. z.B. Stummer 1922, S. 13).
Darauf folgt in Vv. 2-4 zunächst vierfach die „Bitte“ - JHWH möge den Psalmisten „nicht strafen“, „nicht züchtigen“, ihm „gnädig sein“ und ihn „retten“. Daran schließen sich drei Gründe an, mit denen an JHWH appelliert wird: Der Beter „ist schwach“ und (zweimal:)ihm ist angst“.
So sehr ist ihm angst, dass in V. 4b beinahe schon die „Klage“ aus ihm hervorbrechen will, die er jedoch noch zurückhalten kann, um in Vv. 5f einen weiteren „Bitt“-Abschnitt anfügen zu können: JHWH möge sich „umwenden(d.h. sich dem Beter gnädig zuwenden), ihn „retten“ und „erretten“. Und wieder fügt er gleich Argumente für dieses Rettungshandeln an: Er appelliert an JHWHs Barmherzigkeit und weist darauf hin: Sollte JHWH dem Beter nicht helfen und er gar sterben, so würde JHWH ja einen Anbeter verlieren, denn: „Im Totenreich lobt man dich nicht“.

Diese beiden ersten Strophen sind durch Wortspiele kunstvoll gestaltet: Das „schwach“ in V. 3a meint genauer „so traurig, dass ich dem Tode nahe bin“; die doppelt verwendete Vokabel „erschrecken“ in Vv. 3b.4a kann auch „vergehen“ bedeuten und das „rette mich“ in V. 3b ist wörtlich „Heile mich“. Ähnlich bedeutet „Retten“ und „Erretten“ in V. 5 gleichzeitig „Herausziehen“. Beide Vokabeln wecken so die Assoziation, dass der Psalmist sich bereits in der Unterwelt befindet (s. FN h). V. 6 stellt den Bezug zur Unterwelt schließlich eindeutig her. Durch diese Wortspiele wird zwischen den Zeilen eine Entwicklung dargestellt: In Strophe 1 stellt sich der Psalmist dar als einer, der verschmachtet, dem Tod in Riesenschritten entgegeneilt; in Strophe 2 dann als jemand, der bereits gestorben ist und darauf wartet, dass Gott ihn auferweckt. Ähnliches findet sich noch häufiger in den Psalmen und darf nicht wörtlich verstanden werden. Das Sterben und Gestorbensein ist eine beliebte Metapher für ein sonst nicht näher bestimmtes Leid im Allgemeinen (s. z.B. Ps 9,14; 18,5-7; 30,4; 116,3-6 u.ö.). Bis hier lässt sich also noch nicht einmal erkennen, worunter der Psalmist eigentlich leidet.

In Vv. 7f folgt der Abschnitt der „Klage“: Die dreimalige Rede vom Weinen und die zweimalige von den schwach gewordenen Augen haben alle in etwa die selbe Bedeutung: Ihm geht es schlecht, furchtbar schlecht. Mit dem letzten Wort der dritten Strophe wird endlich ausgesprochen, worunter der Beter eigentlich leidet: Ihm geht es schlecht bäkol-tsoräraj, „wegen all meiner Feinde“.
Vv. 9-11: Doch kaum hat er diese Feinde genannt, sind sie schon kein Problem mehr: Selbstbewusst kann er ihnen entgegenrufen: „Weicht von mir, alle Frevler!“ Nachdem er sein Gebet gesprochen hat, ist er sich plötzlich sicher, dass all seine Feinde „sich schämen“, „sehr erschrecken“, „umkehren“ und „sich plötzlich schämen“ werden (V. 11). Auch dieser Stimmungsumschwung ist typisch für die Klagelieder des Einzelnen. Man nennt ihn das „Motiv der Erhörungsgewissheit“: Wie alle Klagelieder ist auch Psalm 6 aus einem „zielgerichteten Vertrauensparadigma“ (Markschies 1991, S. 397) gesprochen; der Beter kann sich sicher sein, dass JHWH ihn erhören (V. 10b) wird, sobald er sein Gebet „gehört(Vv. 9b.10a) hat. Und damit ist das Ziel des Psalmengebets erreicht: Betend hat er Gott auf sein Unglück hingewiesen und kann nun darauf vertrauen, dass dieser handeln wird.

Der letzte Vers ist stilistisch eng an die erste Strophe angelehnt: Wie nach V. 4a der Psalmist „sehr erschrocken“ ist, so werden nach V. 11a die Frevler „sehr erschrecken“. Und ebenso, wie in Vv. 3b.4a ungewöhnlicherweise dieselbe Vokabel wiederholt wird (erschrecken), wird auch in Vv. 11ab dieselbe Vokabel wiederholt (sich schämen). Selbst das Wortspiel wird wieder aufgegriffen: Mindestens „sich schämen“ und „erschrecken“, möglicherweise auch „umkehren(s. FN y) könnten sich ebenso auf den Tod der Frevler beziehen, wie in der ersten Strophe „schwach sein“ und „erschrecken“ die Assoziation des Sterbens weckte. Es wird ganz deutlich: JHWHs Erhörung wird eine Umkehrung der Verhältnisse zur Folge haben. So wie aktuell der Beter unter den Frevlern zu leiden hat, werden dereinst die Frevler leiden.

aFür den Chorleiter + Zum Seitenspiel + Bassstimmen - Wie bei den meisten Psalmen sind auch hier die Bedeutungen der Begriffe im Titel unklar; die Primärübersetzungen sind die, die sich am häufigsten in den dt. Üss. finden.
Die heb. Entsprechung der Üs. „von Bassstimmen“ findet sich auch im Titel von Ps 12,1. Wegen 1 Chr 15,20f., wo sich das Wort neben `alamot findet, was oft als „Jungfrauenweise“=„hohe Gesangsstimme“ gedeutet wird, geht man häufig davon aus, dass er etwas mit der musikalischen Begleitung oder Vortragsweise des Psalms zu tun habe und schließt davon dann z.B. auf die Bedeutungen „Für die Bassstimme“ (so z.B. Craigie 1983), „in der achten Tonart“ (so z.B. Werner 1959, S. 384-388) oder „[zu spielen] auf der achtseitigen Harfe“ (so z.B. Kraus 1961, S. XXVIII). (Zurück zu v.1)
btFN: nicht in deinem Zorn/Grimm - die beiden Negationspartikeln nicht sind durch die Präpositionalphrasen in deinem Zorn bzw. in deinem Grimm von den Verben getrennt. Das ist sehr untypisch im Hebräischen. Vermutlich handelt es sich hier aber um eine bedeutungslose Wortstellungsvariante und das „nicht“ bezieht sich doch auf die Verben, auf denen auch der Fokus der Sätze liegt. Die Funktion der PPs ist es, den Beweggrund JHWHs für die Bestrafung des Psalmisten anzugeben: „Strafe mich nicht aus Zorn“, und dann besser: „Strafe mich nicht trotz deines Zorns“, „Auch wenn du zornig bist, JHWH - strafe mich nicht!“ (Bratcher/Reyburn 1991, S. 59; ähnlich z.B. BFC, GN, PdV).
(Einige (z.B. Broyles 1989, S. 180) gehen jedoch davon aus, dass durch diese Wortstellung der Nachdruck nicht auf die Verben, sd. auf die PPs gelegt werden soll („nicht im Zorn/Grimm strafe mich, [sondern nach dem Maßstab des Rechts (d.i. „fair“)]“; s. Jer 10,24). Nach V. 3 ist aber der Gegensatz zu V. 2 („nicht im Zorn“) nicht „nach Gerechtigkeit“, sondern „[strafe mich nicht, sondern] erbarme dich meiner!“; sicher liegt der Fokus also dennoch auf den Verben (vgl. z.B. König 1927, S. 619).)
Anm. d. Üs. (S.W.): Wenn wir in V. 3 עֲצָמָֽי `atsamaj („meine Knochen“) als עצְמִי `atsmi („mein Gebein“) vokalisierten, ließe sich die Wortstellungsvariante damit erklären, dass so in Vv. 2f ein Endreim herbeigeführt werden soll: tokicheni („strafe mich“), täjasreni („züchtige mich“), ani („ich“), `atsmi („mein Gebein“). „Mein Gebein“ wäre dann ein kollektiver Singular mit der Bedeutung „meine Gebeine“, das deshalb mit Pluralverb konstruiert wurde und wegen diesem Pluralverb von den Masoreten fälschlicherweise als Plural vokalisiert wurde. (zu v.2)
cschwach - Viele Üss. und Lexika: „welk“, aber das wäre überwörtlich (wenn denn „welken“ überhaupt wirklich die Primärbedeutung von amal ist). Besser trifft die Bedeutung sinngemäß wohl ein wörtlich verstandenes „todtraurig“, „so traurig, dass ich dem Tode nahe bin“; s. z.B. Jes 24,4.7: „Es trauert und verdorrt die Erde; es amal und verdorrt die Welt; es amal die Höhen der Erde. ... Es trauert die Rebe, es amal der Wein; es seufzen alle, die fröhlichen Herzens [waren].“; Hos 4,3: „Deshalb wird trauern das Land und es amal alle, die darin wohnen. Die Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres werden dahingerafft.“ u.ö. (Zurück zu v.3)
derschrocken sind (es zittern, es vergehen) meine Knochen (ich) (V. 3) + meine Seele (mein Leben) ist sehr erschrocken (vergeht sehr) (V. 4) - Das heißt wohl: „Ich bin erschrocken; / ja, sehr erschrocken!“. Ebenso wie (fast stets) „Seele“ steht im Hebräischen auch „Knochen“ öfter pars pro toto für den ganzen Menschen (vgl. z.B. Dalglish 1962, S. 143; s. z.B. Ps 35,9f: „Und meine Seele soll sich freuen wegen JHWH... All meine Knochen sollen sagen: JHWH, wer ist wie du?). (zu v.3 / zu v.4)
eUnd du, JHWH, wie lange [noch]...? - Beinahe bricht aus dem Psalmist hier ein verzweifelter Vorwurf hervor, den er gerade noch zurückhalten kann (Aposiopese). Das ist daran erkennbar, dass solche Vorwürfe anderswo im AT mit „Wie lange (denn noch)...?“ eingeleitet sind (Beispiele: Ps 13,2f; Ps 74,10; Ps 80,5; Ps 94,3; Hab 1,2; ebenso abgebrochen in Ps 90,13). (Zurück zu v.4)
fKehre um, JHWH - Begegnendes Unheil führte man im Alten Israel oft darauf zurück, dass der zornige Gott sich von Betroffenen „abgewandt“ habe; entsprechend ist „Wende dich [mir wieder zu]“ hier gleichbedeutend mit „Sei mir gnädig“ in V. 3. Sinnvoll daher Buttenwieser 1938: „Cease from thine anger!“; GN: „Lass ab von deinem Zorn!“ (Zurück zu v.5)
gRette + Errette (hilf) - Wortspiel im Hebräischen: Der Psalmist verwendet in Vv. 3.5 drei unterschiedliche Verben, die sich alle in der Bedeutung „retten“ treffen. Den beiden Verben in V. 5 ist zusätzlich die Bedeutung „herausziehen /-reißen“ gemeinsam. Dahinter steht Folgendes: Im Alten Israel stellte man sich die Unterwelt als den tiefsten Ort des Kosmos vor; daher sprach man von ihr z.B. als dem „Brunnen“, der „Grube“, dem „Schacht“ oder der „Zisterne“ (vgl. z.B. Oesterley 1911, S. 139f; Schorch 2000, S. 97f) und davon, dass man zu ihr „hinabstieg“ oder aus ihr wieder „emporgezogen“ wurde. Von diesem Totenreich spricht V. 6; liest man also Vv. 5 und 6 zusammen, entsteht - gelesen nach dieser zweiten Bedeutung - der Eindruck, der Psalmist habe sich sogar bereits in diesem Totenreich befunden und JHWH habe ihn nach seinem Tod wiederbelebt. (zu v.5)
hmeine Seele (mich) - „Seele“ im Heb. fast stets Wechselbegriff für „Ich“; übersetze: „Rette mich!“ (Zurück zu v.5)
ium deiner Barmherzigkeit (Huld, Liebe, Güte) willen - mehrdeutig:
  1. Das Wort für „um...willen“ hat zwar (1) meist auch im Heb. die Bed. „um...willen“, kann aber (2) auch den Beweggrund bezeichnen, aus dem jemand etwas tut (s. z.B. Ps 25,7; 44,27: „um deiner Huld/Barmherzigkeit willen“ = „aus Huld“; vgl. ad loc. Bratcher/Reyburn 1991, S.61; THAT I, S. 605f) und wird in dieser Bedeutung fast stets verwendet, um an einen Charakterzug Gottes zu appellieren; funktional entspräche dem im Dt. daher eher „Errette mich, du Barmherziger“, wie z.B. häufig Fürbitten formuliert sind.
  2. chesed (hier: „Barmherzigkeit“) meint häufig die „Bundestreue“ und wird derart nicht nur von Gott ausgesagt, der mit den Menschen seinen Bund geschlossen hat, sondern auch von den Menschen, mit denen Gott diesen Bund geschlossen hat (s. z.B. Hos 12,7). läma`an chasdeka ließe sich daher auch übersetzen als „um [meiner] Bundestreue zu dir willen“, und V. 6 würde dann näher spezifizieren, was damit gemeint ist: Der Psalmist könnte im Totenreich seiner Bündnispflicht des JHWH-Preises nicht nachkommen - es läge also ganz im Interesse Gottes, den Psalmisten zu retten. So aber nur Broyles 1989, S. 182f; Ehrlich 1905, S. 11.
Deutung (1) liegt näher, da - wie an den angeführten Stellen zu sehen ist - dieses läma`an [Charakterzug Gottes] ein häufiger Zug in Bitten ist; es könnte aber auch hier sein, dass bewusst mehrdeutig formuliert ist und auf diese kunstvolle Weise gleich zwei Gründe für JHWHs Rettungshandeln vorgebracht werden sollen. (Zurück zu v.5)
jTotenreich + Scheol: Nicht: „Hölle“ o.Ä., die alttestamentliche Vorstellung vom Leben nach dem Tod ist eine ganz andere als die christliche und eher mit der griechischen Vorstellung des Hades zu vergleichen: Ein Schattenreich, in das fast alle Gestorbenen als Schattengestalten hinabfahren, um dann nie wieder daraus zu entkommen. (zu v.6)
kZum Argument in V. 6, JHWH möge doch den Psalmisten retten, weil er mit dessen Tod ja einen Anbeter verlöre, s. z.B. Ps 30,10; 88,11-13; Jes 38,17f) und das Argument wird in Jes 48,9-11 sogar ähnlich von JHWH selbst angewandt. (Zurück zu v.6)
ltFN: Schluchzen trifft es besser als das häufig gefundene „Seufzen“. Sowohl beim Verb als auch beim Nomen passt diese Bedeutung an sämtlichen Stellen wesentlich besser. So z. St. Dahood 1965; Houston/Moore/Waltke 2014; BBE, EVD, NCV, NLT. (Zurück zu v.7)
mtFN: überflute (lasse schwimmen) + weiche auf - zur Deutung der Bedeutung des ersten Verbs als „überfluten“ statt „schwimmen lassen“ vgl. Bosworth 2013, S. 39; von Soden 1991, S. 165f; zur Deutung des zweiten Verbs als „aufweichen“ von Soden 1991, S. 166. (zu v.7)
ntFN: jede Nacht statt „die ganze Nacht“; diese iterative Deutung fordert die Verbform (Yiqtol). (Zurück zu v.7)
otFN: [mit meinen Tränen] - Brachylogie aus Zeile 3; vgl. auch Goldingay 2006, S. 138. (Zurück zu v.7)
ptFN: [jede Nacht] - Brachylogie aus Zeile 2; vgl. auch Goldingay 2006, S. 138. (Zurück zu v.7)
qSchwach geworden (dunkel geworden, geeitert, angeschwollen, hochmütig?) - Bed. unsicher (-> Tris legomenon); sonst nur noch in Ps 31,10f. Für eine Übersicht über ältere Deutungen vgl. Zolli 1951; am sinnvollsten abzuleiten von arab. ghatha („dünn/schwach werden; eitern“; vgl. z.B. Klein 1987, S. 489); daher: „Mein Auge ist schwach geworden (ZLH 635) / geeitert (Lambert 1899, S. 1899, S. 393)“. Zum Sinn vgl. FN j zu Ps 13,5. (Zurück zu v.8)
rtFN: meine Augen - W. „mein Auge“; kollektiver Singular, vgl. z.B. Houston/Moore/Waltke 2014, S. 51. (Zurück zu v.8)
sTextkritik: ich bin gealtert wegen (sie sind gealtert wegen) - Heb. „sie sind gealtert“; die Rede von den „gealterten Augen“ aber ist recht schwierig. Viele übersetzen daher freier als „sind schwach/matt geworden“ (vgl. auch hier zum Sinn FN j zu Ps 13,5), was aber wohl nicht in der Wortbedeutung liegen kann. LXX, Syr, Aq, Sym, Hier hatten offenbar einheitlich stattdessen den Text „ich bin gealtert“ vorliegen; diese Lesart ist sicher vorzuziehen. (Zurück zu v.8)
tFrevler - stehende Wendung im Hebräischen; W.: „alle Tuenden von Frevel“.
Erst in diesem Vers wird offenbar, was eigentlich genau das Leid ist, das der Beter die vorigen acht Verse hindurch beklagt hat: Er wird von frevlerischen Feinden bedrängt. (Zurück zu v.9)
utFN: {Ja!,} (denn) - emphatisches ki, im Dt. nicht zu übersetzen. (Zurück zu v.9)
vKlang meines Weinens + Bitten + Gebet (Bittgebet) - Die Aufeinanderfolge dieser drei Begriffe verdichtet eine Progression von unartikuliert nach artikuliert: qol („Klang“) bezeichnet primär das rein Akustische (das „Geräusch“) – der „Klang des Weinens“ sind also die unartikulierten Klagelaute –; tehinna („Bitten“) meint den Akt der flehenden Hinwendung im Gebet und täfilla ist eine Psalmgattung – das „Bitt-/Klagegebet“. (Zurück zu v.9 / zu v.10)
wJHWH wird mein Gebet annehmen - Oder Vergangenheit:

Gehört hat JHWH den Klang meines Weinens,

Gehört hat JHWH mein Bitten,
JHWH hat mein Gebet angenommen.
Der Tempuswechsel in V. 10b wäre dann ein bedeutungsloser, rein stilistischer Tempuswechsel (-> T-Shift; so z.B. de Hoop 2009, S. 458f.; NET) und man müsste davon ausgehen, dass zwischen Vv. 2-8 und Vv. 9-11 eine gewisse Zeitspanne vergangen ist, in der JHWH die Bitte des Psalmisten gewähren konnte (so z.B. Schmidt 1934, S. 11). Aber wesentlich glatter ist es doch, die beiden „Gehört hat“ als Vergangenheit zu fassen und das „Annehmen wird“ als Futur: Der Psalmist hat sein Gebet gesprochen und Gott hat es gehört, und nun kann sich der Psalmist voll Zuversicht gegen seine Feinde wenden, da er sich sicher sein kann, nun auch bald von Gott erhört zu werden (so z.B. Alter 2007; Duhm 1899, S. 22; Olshausen 1853; Perowne 1880). (Zurück zu v.10)
xsich schämen (zunichte werden) + erschrecken (vergehen) + umkehren (von mir ablassen, wieder?, sterben?) - Wortspiel im Hebräischen: Die Wörter für „schämen“, „erschrecken“ und evt. auch „zurückweichen“ treffen sich in der sekundären Bedeutung „sterben“; es scheint also, als habe die Erhörung des Psalmisten durch Gott die Vernichtung der Feinde zur Folge (vgl. z.B. die Üs. von Achenbach 2004, S. 584: „Zuschanden und zerstieben gar sehr werden all meine Feinde“; zu „zurückweichen“ vgl. Dahood 1965, S. 39; s. noch Ijob 1,21; 30,23; 34,15; Ps 9,18; Pred 3,20; 12,7 – doch nie (wie hier) ohne Ortsangabe)). S. dazu noch die Anmerkungen.
umkehren: Gemeint ist wohl: Von mir ablassen und gleich einem geschlagenen Heer abziehen. Theoretisch ließe es sich außerdem mit „wieder“ übersetzen: „Sie werden sich plötzlich wieder schämen“ (so z.B. Duhm 1899), doch das ist unwahrscheinlich. Nicht: „beschämt umkehren“; im verbalen Hendiadyoin spezifiziert das erste das zweite Verb, nicht aber umgekehrt. (zu v.11)