Psalm 6: Unterschied zwischen den Versionen

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(Stilistische Vereinfachung der Anmerkungen. Zu "angst" s. http://www.duden.de/rechtschreibung/angst)
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Version vom 8. November 2015, 11:05 Uhr

Syntax ungeprüft

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Status: Zuverlässige Studienfassung – Die Übersetzung ist vollständig, erfüllt die Übersetzungskriterien und wurde mit einigen Standards der Qualitätssicherung abgesichert. Verbesserungen sind noch zu erwarten.
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Status: Lesefassung kann erstellt werden – Wer möchte, ist zum Einstellen einer ersten Übertragung in die Lesefassung eingeladen, die später als Grundlage für Verbesserungen dient (Weitere Bibelstellen zum Übertragen). Auf der Diskussionsseite ist Platz für Rückfragen und konstruktive Anmerkungen.

Lesefassung (Psalm 6)

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Anmerkungen

Studienfassung (Psalm 6)

1 Für den Chorleiter (Dirigenten, Singenden, Musizierenden)a.
Zum Saitenspiel (auf Saiteninstrumenten) auf der Achtenb.
Ein Psalm (begleitetes Lied) von (für, über, nach Art von) David.


2 JHWH, nicht in deinem Zornc strafe (züchtige) mich

Und nicht in deinem Grimmc züchtige mich.

3 Sei mir gnädig (erbarme dich meiner), JHWH, denn ich [bin] schwach (ermattet)d.

Rette mich (heile mich), JHWH, denn erschrocken sind (es zittern, es vergehen)e meine Knochen (ich)e
4 Und meine Seele (mein Leben) ist sehr erschrocken (vergeht sehr)e.

Und du, JHWH, wie lange [noch] (bis wann)...?f


5 Kehre um, JHWH!g Retteh meine Seele (mich)i!

Errette (hilf)h mich um deiner Barmherzigkeit (Huld, Liebe, Güte) willenj!

6 Denn es ist kein (findet nicht statt) dich-Loben (Gedenken an dich) im Totenreich (Tod)k

Und wer wird dich preisen im Scheolk?l


7 Ich bin ermüdet durch mein Schluchzen (Seufzen)m,

ich überflute (lasse schwimmen)n jede Nachto [mit meinen Tränen]p mein Bett,
mit meinen Tränen weiche ich [jede Nacht]q mein Lager aufn.

8 Schwach geworden (dunkel geworden, geeitert, angeschwollen, hochmütig?)r vor Kummer (Gram) sind meine Augens,

sie sind gealtert wegen (ich bin gealtert wegen, sie sind geheftet auf?, sie [blicken] stolz/frech auf?)t all meiner Feinde (wegen all meinem Leid/meiner Not).


9 Weicht von mir, all [ihr] Frevleru!
{Ja!,} (denn)v gehört (erhört) hat JHWH den Klang meines Weinensw,

10 Gehört (erhört) hat JHWH mein Bittenw;
JHWH wird mein Gebet (Bittgebet)w annehmenx:

11 All meine Feinde werden (sollen) sich schämen (zunichte werden)y und sehr erschrecken (vergehen)y,

Sie werden (sollen) umkehren (von mir ablassen, wieder?, sterben?)y [und] sich plötzlich schämen (zunichte werden)y.

Anmerkungen

Psalm 6 gehört zur Gattung der sogenannten „Klagelieder eines Einzelnen“, genauer zu der der „Feindklagen eines Einzelnen“. Die meisten der typischen Bestandteile dieser Psalmgattung sind deutlich erkennbar:
V. 1 ist die „Überschrift“. Diese wurden nachträglich von Redaktoren hinzugefügt; über ihren Sinn weiß man immer noch nichts Genaueres und auch die Bedeutung der einzelnen Vokabeln ist hier wie meist unklar. Doch da es sich um nachträgliche Hinzufügungen handelt, wirkt sich das glücklicherweise nicht allzu nachteilig auf das Verständnis des Psalms im Ganzen aus.
V. 2 beginnt mit der sog. „Anrufung“ / „Invokation“, die einzig aus dem Gottesnamen besteht: „JHWH!“ - was typisch für die alttestamentliche, aber ungewöhnlich in der altorientalischen Literatur ist (vgl. z.B. Stummer 1922, S. 13).
Darauf folgt in Vv. 2-4 zunächst vierfach die „Bitte“ - JHWH möge den Psalmisten „nicht strafen“, „nicht züchtigen“, ihm „gnädig sein“ und ihn „retten“. Daran schließen sich drei Gründe an, mit denen an JHWH appelliert wird: Der Beter „ist schwach“ und (zweimal:)ihm ist angst“.
So sehr ist ihm angst, dass in V. 4b beinahe schon die „Klage“ aus ihm hervorbrechen will, die er jedoch noch zurückhalten kann, um in Vv. 5f einen weiteren „Bitt“-Abschnitt anfügen zu können: JHWH möge sich „umwenden(d.h. sich dem Beter gnädig zuwenden), ihn „retten“ und „erretten“. Und wieder fügt er gleich Argumente für dieses Rettungshandeln an: Er appelliert an JHWHs Barmherzigkeit und weist darauf hin: Sollte JHWH dem Beter nicht helfen und er gar sterben, so würde JHWH ja einen Anbeter verlieren, denn: „Im Totenreich lobt man dich nicht“.

Diese beiden ersten Strophen sind durch Wortspiele kunstvoll gestaltet: Das „schwach“ in V. 3a meint genauer „so traurig, dass ich dem Tode nahe bin“; die doppelt verwendete Vokabel „erschrecken“ in Vv. 3b.4a kann auch „vergehen“ bedeuten und das „rette mich“ in V. 3b ist wörtlich „Heile mich“. Ähnlich bedeutet „Retten“ und „Erretten“ in V. 5 gleichzeitig „Herausziehen“. Beide Vokabeln wecken so die Assoziation, dass der Psalmist sich bereits in der Unterwelt befindet (s. FN h). V. 6 stellt den Bezug zur Unterwelt schließlich eindeutig her. Durch diese Wortspiele wird zwischen den Zeilen eine Entwicklung dargestellt: In Strophe 1 stellt sich der Psalmist dar als einer, der verschmachtet, dem Tod in Riesenschritten entgegeneilt; in Strophe 2 dann als jemand, der bereits gestorben ist und darauf wartet, dass Gott ihn auferweckt. Ähnliches findet sich noch häufiger in den Psalmen und darf nicht wörtlich verstanden werden. Das Sterben und Gestorbensein ist eine beliebte Metapher für ein sonst nicht näher bestimmtes Leid im Allgemeinen (s. z.B. Ps 9,14; 18,5-7; 30,4; 116,3-6 u.ö.). Bis hier lässt sich also noch nicht einmal erkennen, worunter der Psalmist eigentlich leidet.

In Vv. 7f folgt der Abschnitt der „Klage“: Die dreimalige Rede vom Weinen und die zweimalige von den schwach gewordenen Augen haben alle in etwa die selbe Bedeutung: Ihm geht es schlecht, furchtbar schlecht. Mit dem letzten Wort der dritten Strophe wird endlich ausgesprochen, worunter der Beter eigentlich leidet: Ihm geht es schlecht bäkol-tsoräraj, „wegen all meiner Feinde“.
Vv. 9-11: Doch kaum hat er diese Feinde genannt, sind sie schon kein Problem mehr: Selbstbewusst kann er ihnen entgegenrufen: „Weicht von mir, alle Frevler!“ Nachdem er sein Gebet gesprochen hat, ist er sich plötzlich sicher, dass all seine Feinde „sich schämen“, „sehr erschrecken“, „umkehren“ und „sich plötzlich schämen“ werden (V. 11). Auch dieser Stimmungsumschwung ist typisch für die Klagelieder des Einzelnen. Man nennt ihn das „Motiv der Erhörungsgewissheit“: Wie alle Klagelieder ist auch Psalm 6 aus einem „zielgerichteten Vertrauensparadigma“ (Markschies 1991, S. 397) gesprochen; der Beter kann sich sicher sein, dass JHWH ihn erhören (V. 10b) wird, sobald er sein Gebet „gehört(Vv. 9b.10a) hat. Und damit ist das Ziel des Psalmengebets erreicht: Betend hat er Gott auf sein Unglück hingewiesen und kann nun darauf vertrauen, dass dieser handeln wird.

Der letzte Vers ist stilistisch eng an die erste Strophe angelehnt: Wie nach V. 4a der Psalmist „sehr erschrocken“ ist, so werden nach V. 11a die Frevler „sehr erschrecken“. Und ebenso, wie in Vv. 3b.4a ungewöhnlicherweise dieselbe Vokabel wiederholt wird (erschrecken), wird auch in Vv. 11ab dieselbe Vokabel wiederholt (sich schämen). Selbst das Wortspiel wird wieder aufgegriffen: Mindestens „sich schämen“ und „erschrecken“, möglicherweise auch „umkehren(s. FN y) könnten sich ebenso auf den Tod der Frevler beziehen, wie in der ersten Strophe „schwach sein“ und „erschrecken“ die Assoziation des Sterbens weckte. Es wird ganz deutlich: JHWHs Erhörung wird eine Umkehrung der Verhältnisse zur Folge haben. So wie aktuell der Beter unter den Frevlern zu leiden hat, werden dereinst die Frevler leiden.


aGenaue Bedeutung unklar. Die gewählte Übersetzung ist mehr oder weniger Konvention, obwohl es nicht an alternativen Übersetzungsvorschlägen mangelt. (Zurück zu v.1)
bauf der Achten - Bedeutung des Wortes unklar; vorgeschlagen wurden häufiger „Für die Bassstimme“, „In der achten Tonart“ und „auf der achtsaitigen Harfe“:
  1. Für die Bassstimme: Das Wort steht auch Ps 12,1 im Titel. In 1 Chr 15,20f steht es zusammen mit alamot, das sich auch in Ps 46,1 im Titel findet und wohl etwa „Jungfrauenweise“=„hohe Gesangsstimme“ bedeutet. Entsprechend wäre die schäminit der Bass der Männerstimmen (so z.B. Craigie 1983, S. 80; Delitzsch 1894, S. 96); zu übersetzen wäre dann etwa: „Für den Chorleiter. Für tiefe Stimmen mit Saitenbegleitung“.
  2. In der achten Tonart: Ibn Ezra und Saadia gingen davon aus, dass es in der israelitischen Musik acht Tonarten gegeben habe und dieser Psalm also in der achten Tonart zu spielen sei (so z.B. auch Terrien 2003, S. 112; vgl. dazu auch Werner 1959, S. 384-388). Zu übersetzen wäre dann etwa „zu Saitenspiel im achten Ton“.
  3. [Zu spielen] auf der achtsaitigen Harfe: Raschi und Kimchi dachten außerdem an achtsaitige Harfen, so z.B. auch Kraus 1961, S. XXVIII - doch gab es zur Abfassungszeit des Psalms solche Harfen wohl noch nicht (Terrien 2003, S. 112) und in 1 Chr 15,21 kann das Wort kein Instrument meinen. (Zurück zu v.1)
ctFN: nicht in deinem Zorn/Grimm - die beiden Negationspartikeln nicht sind durch die Präpositionalphrasen in deinem Zorn bzw. in deinem Grimm von den Verben getrennt. Das ist sehr untypisch im Hebräischen. Vermutlich handelt es sich hier aber um eine bedeutungslose Wortstellungsvariante und das „nicht“ bezieht sich doch auf die Verben, auf denen auch der Fokus der Sätze liegt. Die Funktion der PPs ist es, den Beweggrund JHWHs für die Bestrafung des Psalmisten anzugeben: „Strafe mich nicht aus Zorn“, und dann besser: „Strafe mich nicht trotz deines Zorns“, „Auch wenn du zornig bist, JHWH - strafe mich nicht!“ (Bratcher/Reyburn 1991, S. 59; ähnlich z.B. BFC, GN, PdV).
(Einige (z.B. Broyles 1989, S. 180) gehen jedoch davon aus, dass durch diese Wortstellung der Nachdruck nicht auf die Verben, sd. auf die PPs gelegt werden soll („nicht im Zorn/Grimm strafe mich, [sondern nach dem Maßstab des Rechts (d.i. „fair“)]“; s. Jer 10,24). Nach V. 3 ist aber der Gegensatz zu V. 2 („nicht im Zorn“) nicht „nach Gerechtigkeit“, sondern „[strafe mich nicht, sondern] erbarme dich meiner!“; sicher liegt der Fokus also dennoch auf den Verben (vgl. z.B. König 1927, S. 619).)
Anm. d. Üs. (S.W.): Wenn wir in V. 3 עֲצָמָֽי `atsamaj („meine Knochen“) als עצְמִי `atsmi („mein Gebein“) vokalisierten, ließe sich die Wortstellungsvariante damit erklären, dass so in Vv. 2f ein Endreim herbeigeführt werden soll: tokicheni („strafe mich“), täjasreni („züchtige mich“), ani („ich“), `atsmi („mein Gebein“). „Mein Gebein“ wäre dann ein kollektiver Singular mit der Bedeutung „meine Gebeine“, das deshalb mit Pluralverb konstruiert wurde und wegen diesem Pluralverb von den Masoreten fälschlicherweise als Plural vokalisiert wurde. (zu v.2)
dschwach - Viele Üss. und Lexika: „welk“, aber das wäre überwörtlich (wenn denn „welken“ überhaupt wirklich die Primärbedeutung von amal ist). Besser trifft die Bedeutung sinngemäß wohl ein wörtlich verstandenes „todtraurig“, „so traurig, dass ich dem Tode nahe bin“; s. z.B. Jes 24,4.7: „Es trauert und verdorrt die Erde; es amal und verdorrt die Welt; es amal die Höhen der Erde. ... Es trauert die Rebe, es amal der Wein; es seufzen alle, die fröhlichen Herzens [waren].“; Hos 4,3: „Deshalb wird trauern das Land und es amal alle, die darin wohnen. Die Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres werden dahingerafft.“ u.ö. (Zurück zu v.3)
eerschrocken sind (es zittern, es vergehen) meine Knochen (ich) (V. 3) + meine Seele (mein Leben) ist sehr erschrocken (vergeht sehr) (V. 4) - Das heißt wohl: „Ich bin erschrocken; / ja, sehr erschrocken!“. Ebenso wie (fast stets) „Seele“ steht im Hebräischen auch „Knochen“ öfter pars pro toto für den ganzen Menschen (vgl. z.B. Dalglish 1962, S. 143; s. z.B. Ps 35,9f: „Und meine Seele soll sich freuen wegen JHWH... All meine Knochen sollen sagen: JHWH, wer ist wie du?).

Andere Deutungen:

  1. In der Vergangenheit hat man oft die merkwürdige Formulierung mit „erschreckenden Knochen“ als fehlerhaft überlieferten Text korrigiert (-> Textkritik); aus dem Verb machten einige Ausleger entweder „sie werden morsch“, „sie sind abgenutzt“ oder „sie sind verdorrt“ (beide Vorschläge finden sich noch heute in der BHS).
  2. Alternativ wird oft von einer anderen Bedeutung des Verbs für „erschrecken“ ausgegangen. Dieses könnte nämlich auch
    1. „zittern“ bedeuten (s. Ez 7,27); dann müsste man von einer Anataklasis ausgehen: „Meine Knochen zittern (=Ich zittere) / und meine Seele ist (=ich bin) sehr erschrocken“. So z.B. Alexander 1850; Goldingay 2006; Houston/Moore/Waltke 2014; Terrien 2003.
    2. „vergehen“, bedeuten; vgl. Ges18 und s. Ps 83,18; 90,7; 104,29; Zef 1,18; ws. auch Jes 13,8. Dann
      1. entweder ebenfalls Anataklasis: „Meine Gebeine (=ich) vergehen / und meine Seele (=ich) ist sehr erschrocken“. So Airoldi 1968; wohl auch Buttenwieser 1938.
      2. oder beides als „vergehen“: „Meine Gebeine (=ich) vergehen / und meine Seele (=ich) vergeht sehr“. So Gowen 1929.
Ein hebräischer Leser hätte den Vers vermutlich zumindest zunächst nach unserer Deutung verstanden: Für Alternative (1) müsste man den Text ändern, bei (2.1) und (2.2.1) müsste man eine Anataklasis annehmen, was sich zwar gar nicht selten findet, aber immer heißt: Der Text muss „gegen den Strich gelesen werden“; bei (3.2) stört das „sehr“. (zu v.3 / zu v.4)
fUnd du, JHWH, wie lange [noch]...? - Beinahe bricht aus dem Psalmist hier ein verzweifelter Vorwurf hervor, den er gerade noch zurückhalten kann (Aposiopese). Das ist daran erkennbar, dass solche Vorwürfe anderswo im AT mit „Wie lange (denn noch)...?“ eingeleitet sind (Beispiele: Ps 13,2f; Ps 74,10; Ps 80,5; Ps 94,3; Hab 1,2; ebenso abgebrochen in Ps 90,13). (Zurück zu v.4)
gKehre um, JHWH - Begegnendes Unheil führte man im Alten Israel oft darauf zurück, dass der zornige Gott sich von Betroffenen „abgewandt“ habe; entsprechend ist „Wende dich [mir wieder zu]“ hier gleichbedeutend mit „Sei mir gnädig“ in V. 3. Sinnvoll daher Buttenwieser 1938: „Cease from thine anger!“; GN: „Lass ab von deinem Zorn!“ (Zurück zu v.5)
hRette + Errette (hilf) - Wortspiel im Hebräischen: Der Psalmist verwendet in Vv. 3.5 drei unterschiedliche Verben, die sich alle in der Bedeutung „retten“ treffen. Den beiden Verben in V. 5 ist zusätzlich die Bedeutung „herausziehen /-reißen“ gemeinsam. Dahinter steht Folgendes: Im Alten Israel stellte man sich die Unterwelt als den tiefsten Ort des Kosmos vor; daher sprach man von ihr z.B. als dem „Brunnen“, der „Grube“, dem „Schacht“ oder der „Zisterne“ (vgl. z.B. Oesterley 1911, S. 139f; Schorch 2000, S. 97f) und davon, dass man zu ihr „hinabstieg“ oder aus ihr wieder „emporgezogen“ wurde. Von diesem Totenreich spricht V. 6; liest man also Vv. 5 und 6 zusammen, entsteht - gelesen nach dieser zweiten Bedeutung - der Eindruck, der Psalmist habe sich sogar bereits in diesem Totenreich befunden und JHWH habe ihn nach seinem Tod wiederbelebt. (zu v.5)
imeine Seele (mich) - „Seele“ im Heb. fast stets Wechselbegriff für „Ich“; übersetze: „Rette mich!“ (Zurück zu v.5)
jum deiner Barmherzigkeit (Huld, Liebe, Güte) willen - mehrdeutig:
  1. Das Wort für „um...willen“ hat zwar (1) meist auch im Heb. die Bed. „um...willen“, kann aber (2) auch den Beweggrund bezeichnen, aus dem jemand etwas tut (s. z.B. Ps 25,7; 44,27: „um deiner Huld/Barmherzigkeit willen“ = „aus Huld“; vgl. ad loc. Bratcher/Reyburn 1991, S.61; THAT I, S. 605f) und wird in dieser Bedeutung fast stets verwendet, um an einen Charakterzug Gottes zu appellieren; funktional entspräche dem im Dt. daher eher „Errette mich, du Barmherziger“, wie z.B. häufig Fürbitten formuliert sind.
  2. chesed (hier: „Barmherzigkeit“) meint häufig die „Bundestreue“ und wird derart nicht nur von Gott ausgesagt, der mit den Menschen seinen Bund geschlossen hat, sondern auch von den Menschen, mit denen Gott diesen Bund geschlossen hat (s. z.B. Hos 12,7). läma`an chasdeka ließe sich daher auch übersetzen als „um [meiner] Bundestreue zu dir willen“, und V. 6 würde dann näher spezifizieren, was damit gemeint ist: Der Psalmist könnte im Totenreich seiner Bündnispflicht des JHWH-Preises nicht nachkommen - es läge also ganz im Interesse Gottes, den Psalmisten zu retten. So aber nur Broyles 1989, S. 182f; Ehrlich 1905, S. 11.
Deutung (1) liegt näher, da - wie an den angeführten Stellen zu sehen ist - dieses läma`an [Charakterzug Gottes] ein häufiger Zug in Bitten ist; es könnte aber auch hier sein, dass bewusst mehrdeutig formuliert ist und auf diese kunstvolle Weise gleich zwei Gründe für JHWHs Rettungshandeln vorgebracht werden sollen. (Zurück zu v.5)
kTotenreich + Scheol: Nicht: „Hölle“ o.Ä., die alttestamentliche Vorstellung vom Leben nach dem Tod ist eine ganz andere als die christliche und eher mit der griechischen Vorstellung des Hades zu vergleichen: Ein Schattenreich, in das fast alle Gestorbenen als Schattengestalten hinabfahren, um dann nie wieder daraus zu entkommen. Einige übersetzen gelegentlich auch „Hades“; vielleicht ist das eine verständlichere Alternative? (zu v.6)
lDer Sinn von V. 6 ist umstritten.
  1. Die naheliegendste Deutung ist, dass mit dem Argument an JHWH appelliert wird, er möge doch den Psalmisten retten, denn mit dessen Tod verlöre er ja einen Anbeter.
  2. Weil vielen Exegeten eine solch „egoistische“ Gottesvorstellung nicht angenehm ist, schlagen sie als Alternative vor, der Psalmist sehne sich zurück in die Gottesdienstgemeinde, in deren Reihen er sich sonst JHWHs erinnerte und ihn pries (so z.B. Achtemeier 1974, S. 84f; Podechard 1920, S. 46) oder dass er sich schlicht nach dem „grösste[n] Glück, das ein Frommer haben kann, das Glück, [s]eine Grossthaten zu preisen“ sehne (Duhm 1899, S. 21).
Eine solche „Umdeutung“ ist unnötig - die näher liegende Deutung findet sich noch häufiger in der Bibel (s. z.B. Ps 30,10; 88,11-13; Jes 38,17f) und das Argument wird in Jes 48,9-11 sogar ähnlich von JHWH selbst angewandt. (Zurück zu v.6)
mtFN: Schluchzen trifft es besser als das häufig gefundene „Seufzen“. Sowohl beim Verb als auch beim Nomen passt diese Bedeutung an sämtlichen Stellen wesentlich besser. So ad loc. Dahood 1965; Houston/Moore/Waltke 2014; BBE, EVD, NCV, NLT. (Zurück zu v.7)
ntFN: überflute (lasse schwimmen) + weiche auf - zur Deutung der Bedeutung des ersten Verbs als „überfluten“ statt „schwimmen lassen“ vgl. Bosworth 2013, S. 39; von Soden 1991, S. 165f; zur Deutung des zweiten Verbs als „aufweichen“ von Soden 1991, S. 166. (zu v.7)
otFN: jede Nacht statt „die ganze Nacht“; diese iterative Deutung fordert die Verbform (Yiqtol). (Zurück zu v.7)
ptFN: [mit meinen Tränen] - Brachylogie aus Zeile 3; vgl. auch Goldingay 2006, S. 138. (Zurück zu v.7)
qtFN: [jede Nacht] - Brachylogie aus Zeile 2; vgl. auch Goldingay 2006, S. 138. (Zurück zu v.7)
rSchwach geworden (dunkel geworden, geeitert, angeschwollen, hochmütig?) - Bed. unsicher (-> Tris legomenon); sonst nur noch in Ps 31,10f. Für eine Übersicht über ältere Deutungen vgl. Zolli 1951.
  1. Früher wurde es meist abgeleitet von `asch („Motte“), dann: „Mein Auge ist vor Kummer mottenzerfressen = zerstört“, aber richtig Ehrlich 1905, S. 12: „Es ist wahrlich Zeit, dass man jede Erklärung ohne weiteres als albern verwerfe, die in ausgewählten klassischen Gedichten [...] die Möglichkeit von Bildern, wie ein mottenstichiges und durch Feinde gealtertes Auge, voraussetzt.“ Auch heute noch gelegentlich vertreten.
  2. Sinnvoller daher abzuleiten (-> Etymologie) von arab. ghaththa („dünn/schwach werden; eitern“; vgl. z.B. Klein 1987, S. 489); dann: „Mein Auge ist schwach geworden (ZLH 635) / geeitert (Lambert 1899, S. 1899, S. 393)“. Zum Sinn vgl. FN j zu Ps 13,5.
  3. Zu den Alternativen „dunkel werden“ vgl. Jacob 1902, S. 107 (so auch Tg); zu „anschwellen“ Delekat 1964; auch KBL3, S. 850; zu „hochmütig“ Zolli 1951, der außerdem zw. V. 7 und 8 einen neuen Abschnitt beginnen lassen, vermutlich das „durch Kummer“ als „nach dem Kummer“ und das folgende „alt werden“ als „frech/stolz [blicken](?) deuten will. (Zurück zu v.8)
stFN: meine Augen - W. „mein Auge“; kollektiver Singular, vgl. z.B. Houston/Moore/Waltke 2014, S. 51. (Zurück zu v.8)
tsie sind gealtert wegen (ich bin gealtert wegen, sie sind geheftet auf?, sie [blicken] stolz/frech auf?) - „altern“ ist recht schwierig - erstens als Deutung der Wortbedeutung, zweitens in diesem Kontext.
  1. Sehr viele übersetzen daher freier als „sind schwach/matt geworden“, was aber wohl nicht in der Wortbedeutung liegen kann (als kommunikative Übersetzung aber sinnvoll ist; vgl. auch hier zum Sinn FN j zu Ps 13,5).
  2. Textkritik: Deissler, Kissane, Nötscher, Schmidt und Zorell wollen mit LXX, Aq, Sym, Hier, Syr emendieren zu „ich bin gealtert“, aber dass Feinde „mich“ altern lassen haben sollten, ist ja genau so schwierig, wie dass sie „meine Augen“ altern lassen haben sollten.
  3. Zu „geheftet auf“ vgl. Ehrlich 1905; ebenso schon Saadia; zu „[blicken] stolz/frech“ Zolli 1951 - doch keiner von beiden Vorschlägen hat Anklang in der Exegese gefunden.
Man wird wohl bei den „gealterten Augen“ bleiben müssen. (Zurück zu v.8)
uFrevler - stehende Wendung im Hebräischen; W.: „alle Tuenden von Frevel“.
Erst in diesem Vers wird offenbar, was eigentlich genau das Leid ist, das der Beter die vorigen acht Verse hindurch beklagt hat: Er wird von frevlerischen Feinden bedrängt. (Zurück zu v.9)
vtFN: {Ja!,} (denn) - emphatisches ki, im Dt. nicht zu übersetzen. (Zurück zu v.9)
wKlang meines Weinens + Bitten + Gebet (Bittgebet) - Die Aufeinanderfolge dieser drei Begriffe verdichtet eine Progression von unartikuliert nach artikuliert: qol („Klang“) bezeichnet primär das rein Akustische (das „Geräusch“) - der „Klang des Weinens“ sind also die unartikulierten Klagelaute -; tähinna („Bitten“) meint den Akt der flehenden Hinwendung im Gebet und täfilla ist eine Psalmgattung - das „Bitt-/Klagegebet“. (Zurück zu v.9 / zu v.10)
xJHWH wird mein Gebet annehmen - Oder Vergangenheit:

Gehört hat JHWH den Klang meines Weinens,

Gehört hat JHWH mein Bitten,
JHWH hat mein Gebet angenommen.
Der Tempuswechsel in V. 10b wäre dann ein bedeutungsloser, rein stilistischer Tempuswechsel (-> T-Shift; so z.B. de Hoop 2009, S. 458f.; NET) und man müsste davon ausgehen, dass zwischen Vv. 2-8 und Vv. 9-11 eine gewisse Zeitspanne vergangen ist, in der JHWH die Bitte des Psalmisten gewähren konnte (so z.B. Schmidt 1934, S. 11). Aber wesentlich glatter ist es doch, die beiden „Gehört hat“ als Vergangenheit zu fassen und das „Annehmen wird“ als Futur: Der Psalmist hat sein Gebet gesprochen und Gott hat es gehört, und nun kann sich der Psalmist voll Zuversicht gegen seine Feinde wenden, da er sich sicher sein kann, nun auch bald von Gott erhört zu werden (so z.B. Alter 2007; Duhm 1899, S. 22; Olshausen 1853; Perowne 1880). (Zurück zu v.10)
ysich schämen (zunichte werden) + erschrecken (vergehen) + umkehren (von mir ablassen, wieder?, sterben?) - Wortspiel im Hebräischen: Die Wörter für „schämen“, „erschrecken“ und evt. auch „zurückweichen“ treffen sich in der sekundären Bedeutung „sterben“; es scheint also, als habe die Erhörung des Psalmisten durch Gott die Vernichtung der Feinde zur Folge (vgl. z.B. die Üs. von Achenbach 2004, S. 584: „Zuschanden und zerstieben gar sehr werden all meine Feinde“; zu „zurückweichen“ vgl. Dahood 1965, S. 39; s. noch Ijob 1,21; 30,23; 34,15; Ps 9,18; Pred 3,20; 12,7 - doch nie (wie hier) ohne Ortsangabe)). S. dazu noch die Anmerkungen.
umkehren: Gemeint ist wohl: Von mir ablassen und gleich einem geschlagenen Heer abziehen. Theoretisch ließe es sich außerdem mit „wieder“ übersetzen: „Sie werden sich plötzlich wieder schämen“ (so z.B. Duhm 1899), doch das ist unwahrscheinlich. Nicht: „beschämt umkehren“; im verbalen Hendiadyoin spezifiziert das erste das zweite Verb, nicht aber umgekehrt. (zu v.11)