Gen 31,22-43/Persönliche Fassung (Sebastian Walter)

Aus Die Offene Bibel

Wechseln zu: Navigation, Suche
Dies ist eine individuell verantwortete Textfassung. Sie ist Teil der Offenen Bibel, stammt aber in dieser Version nicht vom Gesamt-Team.

Persönliche Fassung

?. Fers vs. Weiß: Das letzte Gefecht


José de Ribera: Jacob y el rebaño de Labán. Ölgemälde, 1632. CC0 via WikiArt

22 Am dritten Tag wurde Weiß erzählt, dass Fers geflohen war. 23 Da nahm er seine Brüder mit sich und verfolgte ihn sieben Tage lang. Im Gilead-Gebirge heftete er sich an ihn. 24 Doch Gott kam im nächtlichen Traum zum Aramäer Weiß und sagte zu ihm: „Hüte dich, über Fers ein Urteil zu sprechen!“a


25 Dann erreichte Weiß Fers. Fers hatte sein Zelt auf einem Berg eingehauen und Weiß haute bei seinen Brüdern auf dem Berg Gilead ein.
26 Weiß wandte sich an Fers: „Wie konntest du nur!?b Was hast du meine Herzenssachen gestohlen, meine Töchter fortgetrieben wie Kriegsgefangene!? 27 Warum hast du verborgen, dass du fliehen willst, und mich bestohlen, und es mir nicht erzählt, so dass ich dich mit Gesang und Musik und Tamburin und Leier gehen lassen können hätte, 28 und mich nicht so verlassen, dass ich meine Enkel und Töchter küssen können hätte!? Da hast du dämlich gehandelt!
29 Die Gottheit ist mit meiner Hand, so dass ich böse mit euch handeln könnte. Aber der Gott eurer Väter hat gestern zu mir gesprochen: ‚Hüte dich, über Fers ein Urteil zu fällen!‘a 30
Nun bist du also gegangen, weil du natürlich Verlangen nach deinem Vaterhaus hattest... – Warum hast du meine Götter gestohlen!?“
31 Fers antwortete: „Weil ich mich fürchtete. Ich sagte mir: Nicht, dass du mir deine Töchter raubst, die bei mir sind...! 32 Bei wem du allerdings deine Götter findest, der soll nicht am Leben bleiben! Weise vor den Augen unserer Brüder vor, was immer bei mir ist, und nimm's dir!“ Fers wusste nämlich nicht, dass Zibbe sie gestohlen hatte.


33 Da ging Weiß in die Zelte von Fers, von Kuh und von den beiden Mägden, aber er fand nichts.
Nachdem er herausgefunden hatte aus dem Zelt von Kuh, ging er ins Zelt von Zibbe. 34 Zibbe hatte inzwischen die Götzen-Figürchen genommen, sie ins Kamelpolster gestopft und sich auf sie gesetzt. Und so betastete Weiß das ganze Zelt – aber er fand nichts:
35 Zibbe sagte zu ihrem Vater: „Oh, möge es Euer Gesicht doch nicht zornig machen, dass ich vor deinen Augen nicht aufstehen kann – aber es geht mir gerade, wie's Frauen so geht.“c Daher suchte er, aber er fand die Götzenfigürchen nicht.


36 Da wurde Fers zornig
Und er klagte Weiß an
und sagte und sprach zu ihm:
„Worin hab ich mich vergangen
und worin hab ich gefehlt,
dass du hinter mir hergejagt bist
37 und all mein Zeug betastet hast!?
Was hast du unter meinem Zeug gefunden!?
Leg's aus vor meinen Brüdern und vor deinen Brüdern!
Sie sollen richten zwischen uns!

38 20 Jahre sind's jetzt, dass ich bei dir war –
deine Zibben haben nie fehlgeboren,
die Böcke deines Kleinviehs habe ich nie gegessen;
39 Nie hast du Verluste durch den Raub wilder Tiere erlitten,
Wenn durch meine Schuld ein Tier verloren ging,d
hast du es dir von mir ersetzen lassen!

Raub des Tages und Raub der Nacht – 40 war ich!e
Tagsüber verzehrte mich Hitze, und nachts die Kälte,
und nie konnte ich ruhig schlafen!

41 20 Jahre waren's jetzt für mich in deinem Haus –
ich diente dir 14 Jahre für deine beiden Töchter
und sechs Jahre für dein Vieh –
und meinen Lohn hast du verändert zehn Male!

42 Wäre nicht der Gott meines Vaters, der Gott von Vater-Gnade und der Schrecken von Lach,f für mich gewesen, hättest du mich mit leeren Händen gehen lassen! Gott hat auf mein Elend und die Mühsal meiner Hände geschaut – und gestern einen Rechtsentscheid gefällt!“


43 Doch Weiß sagte und sprach zu ihm:
„Die Töchter: Meine Töchter!
Die Kinder: Meine Kinder!
Das Vieh: Mein Vieh!
Was immer du hier siehst: Mir gehört's!“


Gen 31,3-21 <= | => Gen 31,43-32,1


Die drei Tage Wegstrecke, die Weiß in Gen 30,36 zwischen sich und Fers gebracht hat, rächen sich jetzt: Erst drei Tage, nachdem Fers geflohen ist, fällt die Flucht auf. Weiß mustert sofort eine kleine Kohorte aus Verwandten und jagt ihnen nach, holt sie aber erst im Gilead-Gebirge ein, das im nächsten Abschnitt offiziell zur Landesgrenze des gelobten Landes Kanaan werden soll. Bevor er allerdings gegen Fers vorgehen kann, schreitet Gott ein und verwehrt ihm jegliches Urteil über Fers.
So bleibt Weiß nichts anderes übrig, als in Vv. 25-30 eine Kanonade vorwurfsvoller Fragen an Fers zu richten, um dann in V. 30 noch im Sprechen das Meiste davon bereits wieder ad acta legen zu müssen.
Einen Vorwurf allerdings lässt er im Raum stehen, der sich auch schon zuvor wie ein Refrain vom Anfang bis zum Ende durch die ganze Rede gezogen hat: „Was hast du meine Herzenssachen gestohlen?“ – „Warum hast du mich bestohlen?“ – „Warum hast du meine Götter gestohlen?“ Diese sind offenbar „die Herzenssachen“, die Fers laut Gen 31,20 gestohlen hat – nicht etwa die Töchter.
Das Vergehen scheint schwer genug zu wiegen, dass Fers eine Art gerichtliche Untersuchung einleitet, dabei schon vorweg unwissentlich ein Todesurteil über Zibbe ausspricht und dazu Weiß gestattet, all seine Habe zu inspizieren und „alles zu nehmen, was auch immer bei ihm ist“. Gesagt, getan; Weiß schreitet zur Tat, und die Spannung wird fast unerträglich, als er „herausfindet – aus dem Zelt von Kuh“.
Doch spätestens hier werden die Rollen getauscht: Wie zuvor Weiß in Gen 29,25 Fers mit einem Bett-Trick betrogen hatte, betrügt nun Zibbe ihren Vater mit einem Polster-Trick, und wie zuvor Fers seinen Vater getäuscht hatte, als dieser in Gen 27,21 „herumtastete“, täuscht nun Zibbe den ihren, als er in ihrem Zelt herumtastet. Als Meister der Gaunerei erweist sich damit im Fers-Zyklus – dessen Frau Zibbe.
Damit ist vor den Augen des Tribunals aus „den Brüdern von Fers und den Brüdern von Weiß“ (V. 37) – beide sind nun geschiedene Leute, im Gegensatz zu V. 31, wo noch von „unseren Brüdern“ die Rede war – die Anklage in sich zusammengebrochen. Dass Weiß es auch noch versäumt hat, irgendetwas anderes von dem zu nehmen, „was bei Fers ist“ (s. V. 32), ist gleichzeitig stilles Eingeständnis dessen, das wirklich alles, „was bei Fers ist“, diesem gehört. Vor allem aber gibt die Niederlage von Weiß Fers die Gelegenheit, nun seinerseits vor ihrem Tribunal Klage einzureichen, damit dieses „zwischen ihnen richtet“. „Ich soll ein Dieb sein!?“, fragt er. „Doch wohl eher du! Ich habe dir meisterhaft und unbescholten gedient, ja, meisterhaft und unbescholten (Vv. 38f.), ich habe dafür größte Entbehrungen auf mich genommen (V. 40), und ich mir so in 20 Jahren mit vollstem Recht von dir Töchter und Vieh erarbeitet. Der einzige, der in diesen 20 Jahren vertragsbrüchig wurde – warst
du, und das gleich zehnmal hintereinander! Ich musste also geradezu davon ausgehen, dass du noch ein weiteres Mal dein Wort brechen würdest! Doch, hohes Gericht: Das Urteil ist doch ohnehin schon gesprochen: Gott höchstselbst hat es gefällt, als er Weiß gestern nacht erschien. Der Fall ist klar, die Fakten sprechen für sich – und damit für mich.“
Recht eigentlich stimmt das mitnichten; der Fall immer noch höchst unklar: Ob Weiß wirklich vertragsbrüchig geworden ist, weiß man nach wie vor nicht; mit der Rede von den „leeren Händen“ wird Dtn 15,13 zitiert und so noch einmal auf Fers' früheren Diener-Status hingewiesen (zu beidem s. bei Gen 31,3-21), und auch die Lücke in ihrer Lohnabsprache gibt es ja weiterhin (s. bei Gen 30,25-31,2). Weiß hat mit seiner kurzen Antwort in V. 43 also nicht unrecht. Dass er nach dem mächtigen Plädoyers von Fers auf verlorenem Posten kämpft – das immerhin ist dennoch klar. Und so lenkt Weiß im nächsten Abschnitt auch ganz unvermittelt ein.

aWörtlich: „Mit Fers von Gut bis Böse zu sprechen.“ Da Weiß danach sogar ziemlich viel spricht, bedeutet der etwas unklare Ausdruck wahrscheinlich nach Gen 24,50: „über jemanden urteilen.“ (Zurück zu Lesefassung v.24 / zu Lesefassung v.29)
bDramatische Ironie: In Gen 29,25 hatte Fers mit diesen Worten Weiß dafür angeklagt, dass er ihm seine Tochter Kuh gegeben hatte. Nun klagt ihn Weiß mit den selben Worten dafür an, dass er ihm seine Töchter genommen hat. (Zurück zu Lesefassung v.26)
cwie's Frauen so geht meint wohl: „Ich habe meine Tage“. Ob das nun die Wahrheit ist oder nicht – Menstruationsblut galt im Alten Israel als höchst „unrein“ und hätte so vor allem alles, worauf Zibbe sitzt, unrein gemacht (Lev 15,23) – inklusive der „Kotzbrocken“ ihres Vaters also. Man kann sich nur schwer einen unwürdigeren Umgang mit Labans Herzenssachen vorstellen: Die Götterfiguren werden degradiert zu verschmutzten Damenbinden (Fokkelman 1975, S. 170). (Zurück zu Lesefassung v.35)
ddurch meine Schuld verloren ging - Ich nehme ḥaṭṭa` mit VUL, Saadja und ibn Balaam in der Bed. „verschludern“, verwandt mit dem Akkadischen ḫaṭû („schludern, nachlässig sein“) und ḫiṭ(īt)um, das in LH 267 für den Verlust von Vieh durch einen nachlässigen Hirten und YBC 5944 für den Verlust von Vieh durch einen abwesenden Hirtenknaben steht. (Zurück zu Lesefassung v.39)
eTextkritik: Ich verbinde das Wort war ich gegen die masoretischen Akzente mit dem vorangehenden Vers, da es sich in V. 40 nicht erklären lässt. „Raub“ ist im Hebräischen Femininum wie „der Verlust durch Raub“ in V. 39; deswegen und wegen der ungewöhnlichen Wortstellung kommt ich war's! und der Themenwechsel vom behüteten Vieh zum leidenden Hirten sehr überraschend. (Zurück zu Lesefassung v.40)
fDer Schrecken von Lach ist ein Titel für Gott, der nur hier und im nächsten Abschnitt zu finden ist. Die Vorstellung vom „schrecklichen“ Gott ist aber in der Bibel nicht ungewöhnlich; vgl. nur Jes 8,13: „GOTT der Heerscharen sei euer Schrecken!“ Fers verweist hier auf die schreckliche Seite Gottes, um den Vers so noch drohender zu machen, und im nächsten Abschnitt, um das dort geschlossene Bündnis noch fester zu binden. (Zurück zu Lesefassung v.42)