Gen 4,17-26/Persönliche Fassung (Sebastian Walter)

Aus Die Offene Bibel

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Dies ist eine individuell verantwortete Textfassung. Sie ist Teil der Offenen Bibel, stammt aber in dieser Version nicht vom Gesamt-Team.

Persönliche Fassung

5. Zwei Stammbäume und eine neue Hoffnung


Kraftprotz beim Mord.a Buchmalerei, 1372. (c) Koninklijke Bibliotheek

17 Kauf erkannteb seine Frau.
Sie empfing und gebar den Schlau.
Er wurde Gründer einer Stadtc
und nannte den Namen der Stadt
nach dem Namen seines Sohnes: „Schlau“.

18 Seine Stammlinie: Schlau – Städter – Mahijael – Matuschael – Kraftprotz.

19 Kraftprotz nahm sich zwei Frauen.
Der Name der einen war Schmuck,
der Name der anderen Schatten.
20 Schmuck gebar Jabal.d
Er war der Vater derer, die Zelt und Herde bewohnen.e
21 Der Name seines Bruders war Jubal.
Er war der Vater all derer, die Leier und Flöte handhaben.
22 Schatten aber, auch sie, gebar den Tubal-Kauf,
den Schleifer aller, die Bronze und Eisen schmieden.f
Tubal-Kaufs Schwester war Lieblich.

23 Kraftprotz sprach zu seinen Frauen:
„Schmuck und Schatten, hört meine Stimme!
Ihr Frauen von Kraftprotz, hört meine Rede! –
Einen Mann erschlag ich für meine Wunde,
ein Kind für meine Blessur!
24 Wird Kauf siebenfach gerächt,
dann Kraftprotz siebenundsiebzigfach!“


25 Erdling erkannteb seine Frau noch einmal.
Sie gebar einen Sohn
und nannte seinen Namen „Sitz“,g
denn: „Gott hat mir einen anderen Nachwuchs eingesetzt
anstelle von Wertlos, weil Kauf ihn erschlagen hat!“
26 Dem Sitz, auch ihm, wurde ein Sohn geboren.
Er nannte seinen Namen „Menschlein“.

Damals begann man, den Namen GOTTes anzurufen.


Gen 4,1-16 <= | => Gen 5


Der zweite Teil von Gen 4 beginnt ebenso wie der erste: „X erkannte seine Frau (Y). Sie empfing und gebar den Z“. Ähnlich schließen die Verse 20-22 mit der Formulierung „X tat x. Y aber, auch Y, tat y“ eng an die Verse 3-4 an, Kraftprotz nimmt mit seinem Prahllied in den Versen 23-24 deutlich Bezug auf Gottes Urteil in Vers 15; Leben spricht in V. 25 vom vorangegangenen Mord Kaufs, und wie wahrscheinlich am Ende Gott dem Kauf in V. 15 seinen Gottesnamen auf die Stirn geschrieben hat, wird hier am Ende berichtet, dass von da an der Name Gottes „angerufen“ wurde. Es ist also klar, dass Gen 4,17-26 als dritter Part des Triptychons Gen 2-3 – Gen 3,25-4,16 – Gen 4,17-26 gelesen werden sollen. Und das aber, obwohl der Text zu einer ganz anderen literarischen Gattung gehört als die anderen beiden, die man als „mythische Anekdoten“ bezeichnen könnte. Was sich hier anschließt, ist stattdessen eine Mischung aus Genealogie und Anekdotensammlung, wie sich das noch sehr häufig in der Bibel finden wird. Auf heutige westliche Leser wirken diese Verse daher eher fremd, und noch mehr dann die rein genealogische Chronik, die sich in Gen 5 anschließen wird. Überblättern sollte man sie dennoch nicht. Im Alten Israel waren Genealogien wichtig: sie ordneten die Welt, und in einer so sehr von der Stammes- und Familienzugehörigkeit bestimmten Gesellschaft wie dem Alten Israel war die Genealogie eines Menschen Ausweis seiner Stellung in dieser Welt. Vor allem aber sind die Genealogien der Bibel seltenst nur Genealogien; vielmehr nutzten die alten Autoren die strengen formalen Vorgaben dieser Gattung kreativ aus: Biblische Genealogien sind häufig chronik-gewordene Theologie.
Das ist bei den beiden Genealogien in Gen 4-5 noch klarer als bei vielen anderen: Sehr grob geht die erste Genealogie in Gen 4 von Kauf bis Tubal-Kauf, die zweite von Erdling bis Menschlein. Schon in den Namen zeigt sich an, dass sich hier zwei Kreise schließen. Am ausführlichsten ist in der ersten Genealogie aber die Rede von Kraftprotz, dem siebten in der Linie nach Erdling. In der sich in Gen 5 anschließenden Genealogie gibt es ebenfalls einen Kraftprotz, und auch dieser steht an siebter Stelle nach Menschlein, dem „neuen Erdling“. Das wird auf verschiedene Weisen noch zusätzlich betont: Als die Familie des ersten Kraftprotz mit seinen beiden Frauen und vier Kindern auf die Zahl sieben angewachsen ist, singt er sein Lied darüber, dass, wo Kauf siebenfach gerächt werden müsse, er sich 77-fach rächen werde. Im Hebräischen besteht dieser Satz aus sieben Worten. Ähnlich erreicht der zweite Kraftprotz das Alter von 777 Jahren. Dass die Notizen über die beiden Kraftprotze derart von der Zahl Sieben bestimmt werden, ist natürlich nicht als historische Aussage zu nehmen, sondern ist narrative Theologie: Wie die Schöpfung der Welt nach sieben Tagen abgeschlossen war, so kommt auch hier nach sieben Generationen etwas zu seiner Vollendung, und nach den beiden Kraftprotzen beginnt eine neue Ära: Am Ende von Gen 5 stehen so gegeneinander die drei kulturstiftenden Söhne des ersten Kraftprotz und Ruh, „der alle trösten wird“.
Auch die Tatsache, dass es gerade die Nachfahren von Kauf und die Söhne von Kraftprotz, dem „Kauf-in-Potenz“, sind, die als Zivilisationsstifter vorgestellt werden, ist wahrscheinlich narrative Theologie: In den Mythen der umliegenden Völker sind es
Götter oder mindestens mythische Wesen wie die assyrischen Apkallu, auf die Leistungen wie die Gründung der ersten Stadt oder die Erfindung von Viehzucht, Musik und Schmiedekunst zurückgeführt werden. Hier dagegen sind das Kauf und seine Nachfahren Jabal, Jubal und Tubal-Kauf – nicht nur Menschen also, sondern sogar Menschen der übelsten Sorte. Das ist weniger Kommentar zu diesen zivilsatorischen Leistungen an sich als Kommentar zu den Mythen in der Umwelt des Alten Israel. Vor allem aber lässt es sich dann hiermit in Gen 6,5 plausibilisieren, dass die ganze Menschheit verdorben ist: Kein Wunder, wenn ihre Zivilisation zurückzuführen ist auf solche Gründerfiguren.
Die letzten beiden Verse sind keine Doppelung mit Kapitel 5: Während dort eine Gen 4,17-22 parallele Genealogie verzeichnet ist, bringen die Verse hier speziell zum Ausdruck, dass mit einem Teil dieser gleich folgenden Stammfolge die Uhr der Schöpfung zurückgedreht wird: Sitz ist
Ersatz für Wertlos und damit der „neue Wertlos“; ähnlich wird schon im Namen erkennbar, dass „Menschlein“ der „neue Erdling“ sein soll.


aAbgebildet ist hier genauer eine sehr verbreitete Legende (Kugel 1994 hat viele Varianten davon zusammengetragen), die sich so häufig in der sakralen Kunst findet, dass sie kurz nacherzählt sei: Kraftprotz ist in alten Jahren trotz Blindheit noch einmal auf die Jagd gegangen; angeleitet wird er dabei dabei von seinem Kind Tubal-Kauf. Als Tubal-Kauf etwas hört oder sieht, weist er seinen Vater darauf hin; der schießt seinen Bogen ab und – erschießt seinen Urahn Kauf. Zornig über die schlechte Anleitung seines Sohnes erschlägt er darauf auch noch diesen und kann daher dann singen: „Einen Mann=Kauf habe ich getötet wegen meiner Wunde=Blindheit, ein Kind=Tubal-Kauf wegen meiner Blessur. Wird Kauf siebenfach gerächt, muss ich doch 77-fach gestraft werden (denn ich habe ja nicht nur meinen Bruder, sondern sogar meinen Urahn nebst meinem Sohn getötet)!“ (Zurück zum Text: a)
berkennen ist hier wie häufig Euphemismus für „Geschlechtsverkehr haben“. Es ist das selbe Verb, das auch in Gen 2-3 den Baum als „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ beschrieb. (Zurück zu Lesefassung v.17 / zu Lesefassung v.25)
cKlangspiel: „Gründer“ ist im Hebräischen boneh, „sein Sohn“ ist beno. Der ganze Satz ist damit ringförmig um diese Namensgleichheit strukturiert: (a) ... den Schlau. (b) Gründer: boneh (c) Stadt – Name (c') Stadt – Name (b') sein Sohn: beno (a') Schlau (gut Sasson 1978b, S. 173f.).
Schlaus Sohn heißt ´Irad. Für gewöhnlich würde man das als „Wildesel“ deuten, in ´Irad steckt aber ´ir („Stadt“). Damit wird Kauf zum ersten Städtegründer, sein Sohn Schlau ist identisch mit einer Stadt, und dessen Sohn trägt „Stadt“ in seinem Namen. Die kulturelle Großtat der ersten Städtegründung wird also gleich auf zwei Weisen hervorgehoben. (Zurück zu Lesefassung v.17)
dJabal, Jubal und Tubal(-Kauf) sind merkwürdige Namen. Es scheint, als sollten Lesende beim ersten Namen an das Verb jabal („er fließt, er schenkt“) denken, ein ausgezeichneter Name für Jabal, der gleichzeitig Nachfahre des wankenden und wandernden Kauf und Kulturstifter ist (und später wohl Opfer der Sintflut werden wird). Problemlos ist dann auch der zweite Name, Jubal („er wird geschwemmt / geschenkt“), wofür das selbe gilt. Der dritte Name, Tubal, wäre dann aber ein Frauenname: „sie wird geschwemmt / geschenkt“. Die beste Erklärung ist, dass Tubal nicht von diesem Verb abzuleiten ist (siehe zu Vers 22) und dass es dem Autoren bei diesem Namen nur um den Gleichklang ging. (Zurück zu Lesefassung v.20)
edie Zelt und Herde bewohnen - Wortspiel: Zeugma. Das Hebräische lässt sich relativ unproblematisch auflösen als „jene, die [im] Zelt und [bei der] Herde wohnen“; hier aber wurde diese Formulierung bewusst verkürzt (und damit verdreht), um die Zeile noch stärker mit den folgenden zusammenklingen zu lassen: „jene, die Zelt und Herde bewohnen“ – „jene, die Leier und Flöte halten“ – „jene, die Bronze und Eisen schmieden“. (Zurück zu Lesefassung v.20)
fMerkwürdige Beschreibung. Soll vielleicht gesagt sein: Jabal und Jubal begründeten eine Lebensweise und wurden so zu „Stammvätern“, Tubal-Kauf dagegen begründete ein Handwerk und liefert daher stattdessen das Handwerkszeug für die künftigen Handwerker? Aber urteilt man nach 1 Sam 13,19-20, war laṭaš („schärfen“) nicht die Zuarbeit für Schmiede (Gertz 2018: „Ein Metallschleifer für jeden Schmied“), sondern die Tätigkeit von Schmieden selbst. Ist vielleicht ein „Schleifer der Schmiedenden“ ein „Mega-Schmied“, wie das „Lied der Lieder“ (Hld 1,1) ein „Super-Lied“, der „König der Könige“ (Dan 2,37) ein „Hyper-König“ und das „Heilige des Heiligen“ (Ex 26,33) das „Aller-Heiligste“ ist? Das wäre insbesondere deshalb passend, weil vielleicht auch beide Bestandteile von Tubal-Kaufs Doppelnamen „Schmied“ bedeuten. Bei qajn, der Entsprechung von „Kauf“, ist das sicher; für tubal haben z.B. Gelb 1935, S. 11, Sarna 2001 und Gertz 2014 klug vorgeschlagen, dass das Wort mit dem akkadischen taberu („Metall-Arbeiter“) verwandt sein könnte. Dann wäre Tubal-Qajn, loṭeš aller ḥoreš wörtlich der „Schmied-Schmied, Schmied aller Schmiede“. (Zurück zu Lesefassung v.22)
gSitz ist hebräisch Šet. In der Bibel ist das nur belegt in der Bedeutung „Gesäß“ (s. 2 Sam 10,4; Jes 20,4); darf man sich am Syrischen und Aramäischen orientieren, heißt es daneben aber auch „das, worauf etwas aufsitzt“ = „Fundament“. So erklärt den Namen auch Midrasch NumR: „Er nannte ihn Šet, weil auf ihm das Fundament der Welt gegründet werden sollte“ (14,12; s. auch Midrasch HldR 8,9). Wie Qajn wird aber auch dieser Name „falsch“ so erklärt, als lautete er Šit: „(Gott) hat gesetzt / ersetzt“. Vielleicht soll mit dem Namen außerdem auf ß`et („Erhebung“) im vorangehenden Abschnitt angespielt werden: Beginnend mit Sitz nämlich, so zeigt es v.a. der folgende Abschnitt, wird es nach und nach wieder aufwärts gehen mit der Menschheit. Außerdem steht „Gesetzt“ natürlich im Gegensatz zum wankenden und wandernden Qajn. (Zurück zu Lesefassung v.25)