In ntl. Erzähltexten (mit großer Häufigkeit etwa im Johannesevangelium, weniger bei Lukas/Apostelgeschichte)〈a〉 tritt immer wieder ein Phänomen auf, das als „historisches Präsens“ bezeichnet wird. In ihren Erzählungen benutzten die Autoren genau wie im Deutschen gewöhnlich Vergangenheitsformen. Aber immer wieder stehen an verschiedenen Stellen Verben im Präsens, scheinbar willkürlich eingestreut. Wir kennen das vielleicht aus sehr wortgetreuen Übersetzungen, wo sich der unkundige Leser oft über die ungewöhnlichen Tempora wundert. Im Deutschen stolpern wir über solche Formulierungen, die wir allenfalls bei der Erzählung eines lustigen persönlichen Erlebnisses oder einer Kindergeschichte verwenden würden. Für das griechische NT müssen wir jedoch offenbar von einer anderen Funktion ausgehen.
Funktionsbeschreibung[Bearbeiten]
Im Deutschen verwenden wir ein solches Präsens, um den Höhepunkt einer Geschichte intensiver darzustellen und hervorzuheben. Anders im Griechischen, wo das historische Präsens zu häufig benutzt wird, um lediglich Höhepunkte zu markieren. Das historische Präsens wird vielmehr dazu verwendet, um schon markierte, vorhandene Übergänge und Veränderungen in der Erzählung so zu schärfen, dass der Leser sie leichter erkennen kann.〈b〉 Solche Veränderungen sind meist thematischer Natur, etwa ein Orts- oder Personenwechsel, ein Zeitsprung oder eine neue Handlung. In der Regel wird durch die schärfere Abgrenzung solcher Übergänge durch das HP nicht der Übergang als solcher betont, sondern Aufmerksamkeit auf das unmittelbar folgende neue Element gerichtet.〈c〉 Das erklärt, warum das HP häufig bei eher unwichtigen Verben vorkommt, denn nicht die Verben selbst, sondern das unmittelbar oder mittelbar Folgende sollen dadurch abgegrenzt werden.〈d〉
Verwendung[Bearbeiten]
Am häufigsten wird das historische Präsens zur Einleitung wörtlicher Rede mit Verben wie λέγω verwendet. Dann wird Aufmerksamkeit auf die folgende direkte Aussage gelenkt. Ein Beispiel ist der Dialog zwischen Jesus und Marta in Joh 11,21-27, wo nur in V. 21f. und und 25 eine echte Vergangenheitsform benutzt wird. In 23.24.27 wird das HP benutzt, um eine neue Richtung des Dialogs, vielleicht zusätzlich einen schnellen Redewechsel anzuzeigen und jeweils Spannung aufzubauen. V. 25 ist vielleicht als wichtige Kernaussage davon ausgenommen, V. 21f. als einleitende Aussage.
- „The repeated use of the HP [in John] has the effect of building to a dramatic peak, yet this should not be construed as the semantic meaning of the HP. Each HP portrays the action as though it were a transition to some new stage of the discourse. The net effect is to slow the discourse flow and build anticipation. Each one also highlights the next event, only to have the resolution deferred by the presence of another HP. This seems to be the effect of the clustering of HPs into series in John’s gospel.“〈e〉
Weniger häufig, aber doch verbreitet ist das HP mit Verben der Bewegung, einer Verbindung, mit der gerne neue Akteure eingeführt und deren direkte Rede als Beginn einer neuen Perikope markiert werden (so Mk 7,1).〈f〉
Im lukanischen Doppelwerk kommt das historische Präsens hauptsächlich zur Hervorhebung direkter Rede vor. In Lukas wird es sonst nur einmal in Lk 24,12 gebraucht, als Petrus das leere Grab findet. Ein ähnliches Schlüsselereignis wird z.B. in Apg 10 mit Petrus' Besuch bei dem Nichtjuden Cornelius wiederholt durch das HP markiert.〈g〉
Siehe auch[Bearbeiten]
Literatur[Bearbeiten]
- Runge, Stephen, A Discourse Grammar of the Greek New Testament, Bellingham 2010, 125-145.
Fußnoten[Bearbeiten]
a | Runge, Discourse Grammar 2010, 143. (Zurück zu ) |
b | Runge, Discourse Grammar 2010, 136ff. (Zurück zu ) |
c | Runge, Discourse Grammar 2010, 138.143. (Zurück zu ) |
d | Runge, Discourse Grammar 2010, 138. (Zurück zu ) |
e | Runge, Discourse Grammar 2010, 141. (Zurück zu ) |
f | Runge, Discourse Grammar 2010, 137. (Zurück zu ) |
g | Runge, Discourse Grammar 2010, 143. (Zurück zu ) |