Persönliche Fassung
Teil I: Die Zehn Sprüche

1 Dann sprach Gott all diese Worte:〈a〉
2 „Ich bin GOTT, dein Gott,〈b〉 der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Haus der Fron. 5b Ich bin GOTT, dein Gott, ein eifersüchtiger Gott, der gegenüber jenen, die mich hassen, seinen Zorn vier Generationen lang bewahrt; 6 aber gegenüber jenen, die mich lieben und meinen Geboten folgen, tausend Generationen lang Huld erweist.〈c〉
§1 Darum 3 dürfen vor meinen Augen〈d〉 keine anderen Götter bei dir sein – 4 du darfst dir also kein kultisches Machwerk machen: keinerlei Gestalt von etwas am Himmel oben oder auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde –; 5a du darfst dich nicht in die Fron für sie bringen lassen und dich vor ihnen niederwerfen!
7 §2 Du darfst den Namen von GOTT, deinem Gott, nicht unheilvoll tragen!〈e〉 GOTT wird dem nicht vergeben, der seinen Namen unheilvoll trägt.
8 §3 Du musst darauf achten, mir den Tag des Sabbats heilig zu halten: 9 Binnen sechs Tagen darfst du fronen und all deine Arbeit verrichten, 10 aber der siebte Tag, der Sabbat, gehöre GOTT,〈f〉 deinem Gott: Da darfst du keinerlei Arbeit verrichten – du nicht, dein Sohn und deine Tochter nicht, dein Fronknecht und deine Magd und dein Rind und dein Esel und dein ganzes Vieh und dein als Tagelöhner in deinem Ort wohnender Immigrant nicht, so dass auch dein Fronknecht und deine Magd sich ebenso wie du ausruhen können. 11 Denke daran, dass du Fronknecht in Ägypten warst und dass GOTT, dein Gott, dich mit starkem Arm und langer Hand dort herausgeführt hat! Darum hat GOTT, dein Gott, dir geboten, den Tag des Sabbats zu begehen.〈g〉
12 §4 Du musst deinen Vater und deine Mutter ehren!〈h〉 Denn dann wirst du lange leben auf dem Land, das GOTT, dein Gott, dir gibt.
13 §5 Du darfst nicht Mord oder Todschlag begehen.
14 §6 Du darfst keine Ehe brechen.
15 §7 Du darfst nicht stehlen.
16 §8 Du darfst vor Gericht nicht falsch gegen deinen Mitmenschen aussagen.
17 §9 Du darfst nicht gieren nach der Frau deines Mitmenschen.
§10 Du darfst nicht Verlangen haben nach dem Haus deines Mitmenschen, nach seinem Hof und seinem Fronknecht und seiner Magd und seinem Rind und seinem Esel und allem, was deinem Mitmenschen gehört.“〈i〉
Einführung:
Den in Ex 20,2-17 überlieferten Text kennt man heute als die „10 Gebote“. Im Ersten Testament nicht: Dort heißen sie in Dtn 5 die „zehn Sprüche“ (Dtn 4,13; 5,22). Anders im Buch Exodus: Die natürlichste Bedeutung des Texts dort ist, dass Gott dem Mose laut Ex 24,12; 31,18 das in Ex 20,22-23,33 überlieferte Vertragsbuch und vielleicht das nachgereichte Sabbatgebot in Ex 31,13-17 auf steinernen Tafeln überreicht, dass Mose diese Tafeln in Ex 32,15f.19f. zerbricht und dann in Ex 34,28 mit Ex 34,10-26 andere Sprüche noch einmal auf steinerne Tafeln schreibt, und dass erst diese als „zehn Sprüche“ bezeichnet werden. Für den Text in Ex 20,2-17 gilt beides nicht: Weder steht er auf den berühmten steinernen Tafeln noch wird er irgendwo als „zehn Gebote“ o.ä. bezeichnet.
Was also ist im Exodusbuch dann der Text in 20,2-17? Lediglich Gottes erster Entwurf, der aber schon beim Hören zu viel ist für die Israeliten, der daher direkt in der Folge gleich zweimal revidiert wird und nur noch aus sozusagen archivarischem Interesse im Exodusbuch überliefert wird? Oder die unüberbietbare Formulierung des Vertrags zwischen Gott und Israel – das, was Gott eigentlich von seinem Volk verlangt? Und was bietet der Text in Ex 34,10-26? Bloß die klägliche Restmenge an Geboten, die allein Israel einzuhalten imstande ist? Oder die „Zehn Gebote letzter Hand“, die Krone der Gesetzeswerke im Exodusbuch? Beides werden wir uns zu Ex 34 noch einmal fragen müssen. Einstweilen genügt es, dass wir uns damit bescheiden, dass immerhin im Buch Deuteronomium die „zehn Sprüche“ mitnichten überholt werden, sondern dass vielmehr das gesamte deuteronomische Gesetzeswerk präsentiert wird als Auslegung dieser grundlegenden zehn Sätze Gottes.
Auslegungsgeschichte:
Dem entspricht auch die zentrale Rolle, die den zehn Sprüchen in der biblischen und nachbiblischen Auslegung zukommen sollte. Wenn Jesus das Gesetz des Ersten Testaments zitiert, wählt er dafür regelmäßig die Zehn Sprüche (Mt 4,10; 5,21.27.33; Mk 7,10; v.a. Mk 10,19); ebenso Paulus, v.a. in Röm 13,9. Gleichzeitig stellt man schon hier eine gewisse Freiheit beim Umgang mit den Zehn Sprüchen fest: Paulus zitiert sie nur in Auswahl und erklärt darüber hinaus, sie seien durch Jesu Doppelgebot der Liebe eigentlich überflüssig geworden. Ähnlich zitiert sie Jesus in Mk 10,19 nur in Auswahl, sonst jeweils recht frei und überbietet sie ebenfalls in Mt 5,22.28.34. Das setzt sich später fort: Schon die jüdische Gruppierung der Samaritaner ergänzen die Zehn Sprüche im „Samaritanischen Pentateuch“ einfachhin um einen elften Spruch, nach dem auf ihrem heiligen Berg Garizim ein Altar zu errichten sei. In der jüdischen „Apokalypse Abrahams“ (1. Jhd.) sieht der Sprecher in Kap. 24 in einer Vision, wie Sünden begangen werden. Bei der Auswahl der geschauten Sünden orientiert sich der Autor offensichtlich an den Zehn Sprüchen, wie im Zweiten Testament aber wird aus diesen ausgewählt und werden sie um weitere Sünden ergänzt. Die erste uns bekannte christliche Kirchenordnung, die Didache (1. Jhd.), beginnt mit Ausführungen zur Gottes- und Nächstenliebe; darauf folgen schon als zweiter zentraler Inhalt des christlichen Glaubens die Zehn Sprüche – aber ebenfalls nur in Auswahl zitiert und um eigene Sprüche angereichert (Did 2,2-7; falls Did 1,3-2,1 wirklich sekundär sind, hätten sie also sogar die Kirchenordnung eröffnet). Im Hirt des Hermas (2. Jhd.) werden gleich zwölf eigene Gebote formuliert, die sich zwar deutlich, aber nur locker an die Zehn Sprüche anlehnen. Bischof Theophilus (2. Jhd.) nennt den Dekalog das „christliche Hauptgebot“, streicht aber dennoch die Sprüche über Kultbilder und den Namen Gottes und fügt stattdessen zwei über ungerechtes Richten und über Bestechlichkeit hinzu (Ad Autolycum III 9). Und so weiter – es scheint also so, als wären die Zehn Sprüche im frühen Juden- und Christentum wichtig und gut bekannt gewesen, seien aber eher stellvertretend für das genommen worden, was man in der jeweiligen Gemeinde als die wichtigsten Gebote oder als die schlimmsten Verbrechen ansah.
Vermutlich auch deshalb verloren sie im Christentum dann zunächst nach und nach wieder an Wichtigkeit und wurden in der frühchristlichen Ethik spätestens ab dem 6. Jhd. von „Laster-Lehren“ wie insbesondere dem Katalog der „Sieben Todsünden“ überholt.〈j〉 Die erste wichtige Schrift zu den Zehn Sprüchen aus dem Mittelalter sind erst wieder die Institutiones in decalogum legis dominicae von Hugo von St. Viktor (12. Jhd.). Nachdem ihnen dann aber kurz darauf Petrus Lombardus in seinen Sentenzen einen längeren Abschnitt widmet, werden sie auch im Christentum wieder intensiver diskutiert, und dies erst recht, nachdem John von La Rochelles De legibus in der Summa von Alexander von Hales veröffentlicht wird und auch Bonaventura (Collationes de decem praeceptis) und Thomas von Aquin (In decem legis praecepta expositio) sie ausführlicher kommentieren. Vgl. z.B. für einen Überblick über die danach entstandene Literatur nur des deutschen Sprachraums stark Sintrup/Wachinger/Zotz 2010. Im Spätmittelalter entwickelt sich in der Folge gar das „Dekalog-Gedicht“ als eine eigene Gedichtgattung (vgl. Achnitz 2009). Wenn es daher häufig heißt, erst Luther habe die Zehn Sprüche wieder aus der kirchlichen Mottenkiste hervorgeholt, ist das stark übertrieben. Wahr ist aber, dass Luther ungemein einflussreich damit war, dass er – obwohl er auch hierin mehrere Vorgänger hatte – seine Katechismen vor allem auch um die Zehn Sprüche herum konstruiert hat: Spätestens seit Luther bestimmen sie daher maßgeblich fast alle kirchlichen Katechismen und wirkten auch von dort aus weiter in die philosophische Ethik und selbst in die Rechtswissenschaft. Vor allem durch die Vermittlung von Hugo von St. Viktor, Petrus Lombardus, Bonaventura, Thomas von Aquin und Luther wurden sie so zu einer der wichtigsten Quellen für die Entwicklung der westlichen Moral der Neuzeit überhaupt.
Auch hier aber lässt sich Ähnliches feststellen wie schon im frühen Christentum: Im Mittelalter werden die Zehn Sprüche vor allem gesehen als Konkretionen des „natürlichen Gesetzes“, also dessen, was man sich auch durch die Logik als richtig oder falsch erschließen kann. Was dabei jeweils als zum „natürlichen Gesetz“ gehörig angesehen wird, ist oft aber mitnichten streng logisch herleitbar, sondern spiegelt häufig nur wieder, was in dieser Zeit in der Kirche als richtig oder falsch angesehen wurde. Wieder wurde daher regelmäßig nicht die ursprünglich angezielte Bedeutung der Zehn Sprüche maßgeblich, sondern sie werden zur Projektionsfläche für alles Mögliche, was zu der jeweiligen Zeit als moralisch, ethisch oder „kirchlich“ zu befürworten oder abzulehnen angesehen wird. Das hat sich bis heute durchgehalten: Was heute in kirchlichen Katechismen und populärtheologischen Schriften als Inhalt der „Zehn Gebote“ angesehen wird, hat häufig recht wenig mit dem zu tun, wie sie in der wissenschaftlichen Exegese gedeutet werden. So ist es etwa einfach nicht richtig, wenn als Sinn des Spruchs über den Sabbat im Genfer Katechismus erklärt wird, man solle jeden Tag (!) „seinen Neigungen entsagen“, wenn im KEK der Spruch „Du darfst nicht morden“ umschrieben wird mit „Du sollst Leben bewahren“ und dann z.B. zum Verbot des Drogenkonsums konkretisiert wird, wenn im Glaubensbuch der belgischen Bischöfe der Spruch über den Ehebruch gleichgesetzt wird mit der Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe oder wenn noch im KKK der Spruch über die Elternehrung ausgedehnt wird auf „Pflichten der Schüler gegenüber dem Lehrer, der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern, der Untergebenen gegenüber ihren Vorgesetzten, der Bürger gegenüber ihrem Vaterland und gegenüber denen, die es verwalten und regieren.“ (2199). Mit solchen „Auslegungen“ vergeht man sich an diesem wunderbaren Text:
Auslegung:
Die theologische Mitte des Texts ist direkt in der Einleitung ausgesprochen: GOTT ist der Gott jedes und jeder Einzelnen der Anwesenden, die er aus der ägyptischen „Fron“ befreit hat. Mit solchen befreiten Israelit:innen soll daher Gottes Vertrag geschlossen werden, und Grundanliegen der Vertragsbedingungen ist es, ihre Freiheit auf dem Land, das er ihnen zu geben gedenkt (V. 12), zu sichern (vgl. stark Crüsemann 1983, S. 8-13.80.82f.):
- Es war aber jene Befreiungstat, in der der hohe Gott sich zu dieses Volkes Gott gemacht hat. Und eben um Befreiung geht es auch in dem, was er laut seiner Gebote von diesem Volk haben will ... Das Alles ... [ist] Heilsbotschaft, Anweisung zum Freisein auf Grund jener Befreiungstat, Anleitung zu dem Dienst, zu dem der, der dieses Volk erwählte, es bestimmt hat, indirekte Einübung in den dazu nötigen Verhaltungsweisen, Warnung vor dem, was dabei zu unterlassen ist, so oder so: Gebot des diesem Volk wohlgesinnten, wohlwollenden, wohltuenden Gottes. (Barth: KD IV/1, S. 471)
Dafür werden zunächst in den Sprüchen 1-4 mehrere Formen von Fron ausgeschlossen: 1: Für religiöse Praxis darf man sich nicht in die Fron bringen lassen. 2: Anders als in den Religionen und an Tempeln des Umlands Israels will auch Gott selbst keine Knechte und straft sogar den, der sich zu seinem Knecht macht. 3: Verlangt werden auch keine teuren Opfergaben: Religiöse Pflicht ist allein der Sabbat, ein Fest der Freiheit im eigenen Haushalt, das man auch begeht, indem man dort Hierarchien einebnet, insofern selbst den zu einer Großfamilie gehörenden Schuldsklav:innen und Tieren gleichermaßen die befreiende Sabbatruhe zuzusprechen ist. 4: Auch an anderen Tagen sind nicht Könige, nicht Priester, nicht Propheten zu „ehren“ und dann diesen zu dienen – sondern Vater und Mutter im eigenen Haushalt; niemand sonst.
Sprüche 5-7 zielen noch grundsätzlicher auf die Bewahrung von Lebensgrundlagen – anders als heute hatte für Frauen im Alten Israel nämlich auch die Ehe diese Bedeutung, weshalb in biblischen Gesetzessammlungen der Ehebruch gar mit Todesstrafe belegt wurde (Lev 20,10; Dtn 22,22). Mord, Ehebruch und Diebstahl werden daher auch sonst häufig gemeinsam genannt; s. nur Jer 7,9; Hos 4,2; Ijob 24,14-16. Die Reihenfolge dieser drei Sprüche konnte wohl auch deshalb noch lange schwanken: In den meisten hebräischen Handschriften war sie Mord – Ehebruch – Diebstahl, in der LXX zu Ex und mehreren frühjüdischen Schriften Ehebruch – Diebstahl – Mord, in manchen LXX-Handschriften, bei Philo und im Zweiten Testament Ehebruch – Mord – Diebstahl.
In Spruch 8 wird dies alles noch einmal zusätzlich abgesichert durch die Verpflichtung auf wahrheitsgemäßes Sprechen vor Gericht, das als Institution die Bewahrung der Freiheit garantieren sollte. Und einen letzten Schritt weiter gehen Sprüche 9-10, mit denen Gottes Vertragsvolk nicht verpflichtet wird auf ein bestimmtes Handeln, sondern auf eine bestimmte Haltung. Spätestens hier wird klar, dass die Zehn Sprüche kein „Gesetzestext“ sind; eine Haltung ist schließlich nicht justiziabel. Sondern: Als letzte Maßnahme zur Sicherung der geschenkten Freiheit wird Israel verpflichtet zur Genügsamkeit, womit auch das Streben nach Expansion des eigenen Haushalts im gelobten Land auf Kosten anderer und die Expansion des gelobten Landes in die Territorien anderer Völker ausgeschlossen wird. So soll dann Gottes Volk als äußerlich und innerlich freies Volk auf ewig leben können exakt auf dem Land, dass Gott ihm geben wird.
a | Zu den Versen Ex 20,2-17 hat sich eine äußerst reiche Auslegungsgeschichte entwickelt – so reich, dass sie hier nicht einmal angedeutet werden kann. Einen ersten Einstieg in die frühjüdische und frühchristliche Auslegung bietet gut de Vos 2016; einen speziell in die früchristliche Rentschka 1905; Grant 1947, einen in die Auslegung im mittelalterlichen und reformatorischen Christentum Kuntz 2004.![]() Basilica Germigny-Des-Prés: Apsis-Mosaik, frühes 9. Jhd. Die kleinen Engel zeigen auf das Innere der Vertrags-Kiste, die großen auf den Altar unter der Apsis und damit auf Christus. Die Lade ist leer; statt den Gebotstafeln darin sieht man darüber noch die Hand des Gekreuzigten. CC BY-SA 4.0: Willyman via Wikimedia Über das theologische Verhältnis vom Logos Christus zu den Deka Logoi hat man m.W. in der christlichen Dogmatik noch gar nicht nachgedacht. Vielleicht sollte man das aber; in dieser christlichen Auslegungslinie könnten Chancen für den interreligiösen Dialog mit Judentum und Islam liegen. (Zurück zu Lesefassung v.1) |
b | dein Gott. Nicht: „dein Herr“, nicht einmal „der Gott GOTT“. Und auch nicht mehr nur „Ich bin GOTT“ wie noch in Ex 6,2: „Ich bin GOTT, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat“. Jeder ist persönlich angesprochen, Gott ist der persönliche Gott eines Jeden, der nach der Befreiung aus Ägypten zugegen ist. In Dtn 5,3 wird diese Aussage sogar noch einmal zusätzlich aktualisiert: „GOTT hat seinen Vertrag nicht mit unseren Vorfahren geschlossen, sondern mit uns, uns allen, die hier und heute am Leben sind.“ Mit der Befreiung aus Israel hat Gott sich erneut und unaufhebbar zu „deinem Gott“ gemacht, wenn du einer bist, der glaubend auf diese Befreiung zurückschaut. (Zurück zu Lesefassung v.2) |
c | Kurz: „Ich bin so huldvoll, dass eine mich liebende Person 250 mich hassende Personen aufwiegt, so dass ich dann nicht strafe“. Die Aussage ist also nicht identisch mit Ps 79,8; 109,8-15; Klg 5,7; 2 Kön 22,13; 2 Chr 29,6-9, wo jeweils in der Rede von Menschen nur von den vier Generationen Strafe und nicht von den tausend Generationen Huld die Rede ist. Vgl. v.a. Num 14, wo das Prinzip „4 Generationen Eifer, 1000 Generationen Huld“ explizit zur Anwendung kommt (s. Num 14,17f.). Gott entscheidet sich dort dazu, auch wirklich nach diesem Prinzip zu handeln – und straft daher nicht die Übeltäter bis in die vierte Generation, sondern vergibt den Missetätern gemäß seiner übergroßen Huld (Num 14,20). S. auch Dtn 7,9f.; Jer 31,29f.; Ez 18,2-4.19f. (ähnlich Dtn 24,16), wo explizit verneint wird, dass Gott letztendlich wirklich die Sünden von Vorfahren an deren Nachkommen straft. Ebenso wie hier auch Ex 34,6f.; Jer 32,18. Wichtig für unsere Stelle ist dann noch, dass V. 6 offensichtlich kein Nebensatz zum Hauptsatz 5a ist (*„Huldige keinen anderen Göttern, denn meine Gnade ist sehr groß“): Vv. 5b-6 knüpft mit dem selben Satzanfang an V. 2 an (gut Auffret 2014, S. 818) und rundet und schließt so die dort begonnene Selbstvorstellung ab. Mit dieser Selbstvorstellung als Ganzer wird dann insgesamt die gesamte Gebotsreihe in Vv. 3-5a begründet: „Gestatten? Ich bin dein Gott, und zwar bin ich ein eifersüchtiger, aber noch viel mehr ein gütiger Gott. Darum ...“ – und dann s. weiter in der nächsten FN. (Zurück zu Lesefassung v.6) |
d | Gemeint sein kann mit der Formulierung – w. „vor meinem Gesicht“ – nur konkret „direkt vor meinen Augen“ (Knieriem 1965; Houtman 1997, S. 59; Dozeman 2009), also z.B. ein Götzenbild „direkt vor dem Gottesberg“ wie gleich in Ex 32 oder wie noch tausend Jahre später die Statue des Zeus mitten im Jerusalemer Tempel (Dan 9,27; 11,31; 12,11 LXX; 1 Makk 1,54; ähnlich schon 2 Kön 21,7; 23,4; Ez 8,10). V. 4, der auf den ersten Blick so sehr stört zwischen den „anderen Götter“ in V. 3 und dem „für sie“ in V. 5, das sich auf diese Götter zurückbeziehen muss, ist also eine glossierende Erläuterung, was das eigentlich genauerhin bedeuten soll, dass „andere Götter vor Gottes Gesicht sind“. Anders als in Ex 22,19; 23,13.24; 34,14; Dtn 6,14; 11,16; Ps 81,10; Jer 25,6 u.ö. wird also hier nicht die Verehrung anderer Götter schlechthin verboten, sondern eine bestimmte Weise der Verehrung: (1) Nicht so, dass sich ein figürliches Machwerk zwischen dich und mich schiebt (Vv. 3-4), (2) Nicht so, dass du dich dazu bringen lässt, anderen Göttern zu fronen – schließlich habe ich dich gerade erst aus dem Haus der Fron befreit. Insofern ist der Spruch nicht nur menschenfreundlicher, sondern auch laxer als die eben genannten strengeren Monotheismus-Gebote; vielleicht sollte man den Spruch sogar grundsätzlich weniger mit diesen vergleichen als mit der Eifersuchtsklausel in altorientalischen Eheverträgen, nach der ein Ehemann sich zwar Mätressen und Nebenfrauen nehmen und zu Prostituierten gehen durfte, nur nicht direkt in der Gegend, in der das Ehepaar lebt (z.B. „[Der Bräutigam] darf keine Freundin haben, die zusätzlich bei ihnen lebt. In Kaniš oder Niḫriya darf er keine weitere Kultprostituierte heiraten.“; AKT I 77 nach Stol 2016, S. 188). Dass die Zehn Spürche noch laxer sind als vergleichbare Rechtssätze in der Bibel, wird uns gleich noch weitere Male begegnen. Zum Sinn vgl. dann noch Ex 32: Dort macht das Volk Israels sich aus dem Goldschmuck, von dem Gott in Ex 3,21f. selbst veranlasst hat, dass die Ägypter ihn den Israelit:innen geben sollen, ein solches Machwerk von ihm, vom „GOTT, der sie aus Ägypten geführt hat“. Schon dieses Machwerk ist für Gott aber ein „anderer Gott“, mit dem sein Volk sich „verdirbt“ (s. Ex 32,8). Vgl. ebenso das sich gleich anschließende Altargebot in Ex 20,23-26: „Ihr“ dürft keine kultischen Statuen aus Edelmetallen anfertigen, „du“ sollst Gott ausschließlich verehren an einem aus bloßer Erde oder unbearbeiteten Feldsteinen aufgehäuftem Altar. In Ex 20,3-5a wird also keine Fremdgötterverehrung verboten, sondern Gott, der dich aus dem „Haus der Fron“ befreit hat, verbietet eine Weise der Verehrung, bei der du für die Religion „fronen“ musst. Wollte man diesen Spruch heute aktualisieren, wäre allein von den Zehn Sprüchen her z.B. etwas wie in Japan, wo neben Gott andernorts shintoistische Götter kostenfrei (!) verehrt werden, wahrscheinlich sogar zulässig, und zu verbieten wären dagegen prächtige Kirchenbauten, Reliquien, Ikonen und kirchliche Angestellte, sofern du durch Ablass und Kirchensteuer für die Verehrung Gottes in dieser Form wieder unfrei wirst. (Zurück zu Lesefassung v.3) |
e | ![]() Der ägyptische General Haremhab; auf seinem Arm das Symbol des Gottes Amun. CC0 via TheMet Die übliche Übersetzung „du sollst seinen Namen nicht aussprechen“ wäre mindestens nicht idiomatisch; der Satz ist wahrscheinlicher eine Anspielung auf den Usus, dass Diener eines Gottes oder eines menschlichen Herrn sich dessen Namen oder Symbol als Tattoo, als Brandmal oder als Narbendekoration auf Arm oder Stirn aufprägten (Bar-Ilan 1989, 2018; Block 2011; Imes 2018). Vgl. noch Philo, SpecLeg I 58: „Manche Menschen gehen so weit, dass sie sich jede Chance auf Umkehr oder Reue nehmen, und hasten in die Sklaverei und den Dienst an menschengemachten Götzen, ... indem sie die Buchstaben [ihres Herrn oder Gottes] mit einem Brandeisen tief in ihre Person einbrennen, damit sie dort unauslöschlich bleiben mögen.“ In der Umwelt Altisraels wurden Symbole von Göttern auch wirklich überwiegend von Tempel-Sklaven getragen (der rechts abgebildete General, der später sogar Pharao werden sollte, ist aber ein sehr deutliches Gegenbeispiel). Das Bild, den Gottesnamen zu tragen, findet sich auch in mehreren der Stellen, die ich zu Gen 4,15 zitiert habe. Es ist dort ein Schutz-Zeichen, kein Zeichen des Sklavenstandes. Gesagt wird hier also entweder: „Wer dieses Zeichen trägt, darf nicht unheilvoll handeln“. Dann ist der Satz nur Überleitung zu den nächsten Sprüchen. Oder zu betonen ist „unheilvoll“ und es wird gesagt, dass dieses Zeichen kein unheilvolles Zeichen sein darf, also wie üblich ein Zeichen für Sklaverei und Fron. Oder schließlich: Anhängern GOTTes wird das Tragen eines solchen Zeichens schlechthin verboten, da es ja ein Zeichen unheilvoller Fron wäre – aber Gott hat doch aus der Fron befreit. Wegen der vielen späteren Stellen, an denen der Name Gottes heilvoll getragen wird, präferiere ich die zweite Deutung. Auslegungsgeschichte: Die Auslegung von Isidor von Sevilla, Bede Venerabilis und Alkuin übrigens ist faszinierend: „Nimm nicht den Namen Gottes an ..., denk also nicht, [du als] Geschöpf sei[st] Sohn Gottes, dem jede andere Kreatur unterworfen ist.“ (PL 83, Sp. 301; PL 91, Sp. 318; PL 100, Sp. 567). Das ist fast sicher nicht gemeint, harmoniert aber sehr mit dem Grundanliegen der Zehn Worte (s.u.). (Zurück zu Lesefassung v.7) |
f | gehöre Gott - Wörtlich: l-JHWH, „[ist/sei] von/für GOTT“. Das ist es auch, was ein Träger des Namens GOTTes auf seine Haut geschrieben hätte; vgl. z.B. den Elephantine-Brief B33 über zwei ägyptische Sklaven: „Peṭosiri ..., ein Sklave, brandmarkte seine rechte Hand auf Aramäisch [mit] einem Brandmal, das lautete: l-Mibtahiah, ‚von Mibtahiah‘.“ (Üs. nach Porten 1996, S. 200). Entweder ist damit eine der Pointen des Texts: „Gehörst du mir, gehört auch dein Sabbat mir!“ Oder wahrscheinlicher: „Nicht du sollst mir gehören, nur dein Sabbat soll mir gehören!“ Und dieser Sabbat wiederum ist dann gerade ein Zeichen der Freiheit und Nicht-Fron für sämtliche Bürger:innen Israels, zu denen hier selbst das israelitische Vieh (s. zu Ex 19,12f.!) und der Immigrant gerechnet wird (s. Ri 17 zum Immigranten als Mitglied einer bio-israelitischen Großfamilie). (Zurück zu Lesefassung v.10) |
g | Textkritik: Den Sabbat-Spruch habe ich nicht nach dem Buch Exodus übersetzt, sondern nach dem frühesten erreichbaren Wortlaut desselben, überwiegend aus Dtn 5. Schon vor Einführung des Sabbats als wöchentlichem Feiertag gab es in Israel einen arbeitsfreien Tag pro Woche. Dieser wurde wahrscheinlich erst ab dem 6. Jhd. v. Chr. mit dem Sabbat identifiziert (s. z.B. Sabbat (AT) (WiBiLex); Grund 2011, S. 305-309). Wo die Formulierung des Sabbat-Spruchs im Exodusbuch sich vom Wortlaut oben unterscheidet, hat dies nur den Zweck, den siebten Tag der Woche als Sabbat als uralten Feiertag darzustellen, den Gott bereits mit der Schöpfung der Welt eingeführt hat: (1) „Du musst daran denken, mir den Tag des Sabbats heilig zu halten“ und (2) die Begründung: „Denn binnen sechs Tagen hat GOTT den Himmel und die Erde, das Meer und alles darin gemacht und sich am siebten Tag ausgeruht. Darum hat GOTT den Tag des Sabbats gesegnet und zum ihm geheiligten Tag erklärt.“ Außerdem wird (3) die Liste der vom siebten Tag profitierenden Wesen auf genau sieben zusammengekürzt (gut z.B. Cassuto 1967): „(i) Du, (ii) dein Sohn (iii) und deine Tochter, (iv) dein Fronknecht (v) und deine Magd (vi) und dein Vieh (vii) und dein Immigrant.“ In der Dtn-Fassung steht noch „..., mir den Sabbattag heilig zu halten, wie dir GOTT, dein Gott, geboten hat.“ (ähnlich auch noch mal im nächsten Spruch). Dies ist die übliche Zitations-Formel im Buch Dtn, die nur zeigen soll, dass der Text direkt davor keine Erfindung deuteronomischer Autoren ist, sondern von einem anderen Ort der heiligen Schrift zitiert wurde, und die damit offensichtlich ebenfalls nicht zum ursprünglichen Wortlaut gehört. (Zurück zu Lesefassung v.11) |
h | Es gibt eine schöne alte Auslegung, nach der mit diesem „ehren“ gemeint ist: „sich um die altersschwachen Eltern kümmern“. Vgl. bes. im Talmud, b.Qid 31b: „Die Weisen lehren: Was heißt ... ‚(die Eltern) ehren‘? – Sie mit Essen und Trinken versorgen, sie bekleiden und bedecken, sie ausführen und zurückbringen.“ Mk 7,10-13 könnte nahelegen, dass auch schon Jesus den Spruch als Verpflichtung verstanden hat, die eigenen Eltern ganz konkret mit Gütern zu unterstützen. Sicher ist das aber nicht; von der Wortbedeutung her wahrscheinlicher ist eher „ihnen gehorchen“ gemeint, wie der Spruch auch gedeutet wird in Eph 6,1-3 und 4QInstrb 2 III 15-19 („Ehre deinen Vater ... und deine Mutter ..., denn sie ... (haben dich gezeugt) und (GOTT) hat sie eingesetzt, um über dich zu herrschen ...; darum diene ihnen.“). S. ähnlich Dtn 21,18-21; Spr 1,8; 23,22; 30,17; Mi 7,6; Sir 3,1; Tob 4,4. Nota bene: „Geehrt“ werden sollen dann also nicht Führer des Volkes, Älteste, Richter, Könige o.Ä. Nach den vorangehenden Sprüchen kann man das kaum anders als politisch lesen: Für die Unterzeichenden des Vertrags mit dem König GOTT, die nicht einmal diesem Gott oder anderen Göttern fronen dürfen und bei denen selbst Tiere und Sklaven immerhin zeitweise frei sind und auf einer Stufe mit den freien Bürgern Israels stehen, sind die einzigen Respektspersonen oder die einzigen, die sie finanziell und mit Dienstleistungen zu unterstützen haben, die Eltern im eigenen Haushalt. Von allen fernliegenden Verheutigungen der Zehn Sprüche in modernen Katechismen (s. unten zur Auslegungsgeschichte) ist dann die, mit diesem Spruch seien nicht nur die Eltern gemeint, sondern diese stünden pars pro toto auch für z.B. Lehrer, Arbeitgeber, Vorgesetzte oder gar das Vaterland, die verkehrteste. Stark Meynet 2013, S. 11: Erwartet hätte man erstens „Ehre deine Eltern. Denn dann werden sie lange leben“ und zweitens „dann wirst du lange leben auf dem Land, dass sie dir geben“, nämlich als Erbe. Beide naheliegenden Zusammenhänge werden hier aufgebrochen: Du selbst bist es, dessen Leben dann lang sein wird, und Gott ist es, der dir dein Land gibt. Man darf sich danach also wahrscheinlich nicht fragen, was eigentlich der logische Zusammenhang von Elternehrung und langem Leben ist: Die überraschende Formulierung soll gerade zum Ausdruck bringen, dass dies die Frucht der Treue zu diesem Spruch Gottes ist. Vgl. LAB 11,9, wo dies durch eine Ergänzung ausdrücklich gemacht wird: Gott ist es, der dich dann derart segnen wird („Liebe deinen Vater und deine Mutter, und du sollst sie fürchten, und dann wird dir dein Licht aufsteigen. Und ich werde dem Himmel Befehl geben, und er wird dir seinen Regen gewähren, und die Erde wird ihre Frucht schnell bringen. Und du wirst viele Tage leben...“, Üs.: Dietzfelbinger). Verwandt ist die Erklärung von Cassuto 1967: Langes Leben folgt nicht speziell aus der Ehrung der Eltern, sondern Gott lohnt grundsätzlich gutes Handeln wie insbesondere die Treue gegenüber seinen Geboten mit langem Leben (s. Ex 23,24-26; Dtn 6,1f.; 11,8f.; 22,6f.; 1 Kön 3,14; Ps 41,2f.; dagegen Dtn 4,26f.; 30,16-20). (Zurück zu Lesefassung v.12) |
i | Textkritik: Wieder übersetzt nach der Dtn-Version, nicht nach Ex. In Ex wurde auch diese Liste wieder auf sieben Glieder zusammengekürzt und dazu „Haus“ an die Spitze der Liste gestellt und die Liste so anders aufgeteilt in unbelebte vs. belebte Glieder: „Du darfst nicht gieren (i) nach dem Haus deines Mitmenschen. Du darfst nicht gieren (ii) nach der Frau deines Mitmenschen (iii) und seinem Fronknecht (iv) und seiner Sklavin (v) und seinem Rind (vi) und seinem Esel (vii) und allen, die zu deinem Mitmenschen gehören.“ Man beachte, dass auch hier die „Frau deines Mitmenschen“ durch das „...deines Mitmenschen“ von Glied (iii-vii) geschieden wird; dass die Ex-Variante die Rolle der Frau „herabstuft“ auf eine Ebene mit den einem Mitmenschen gehörenden Lebewesen, wie es oft in der Sekundärliteratur heißt, ist stark übertrieben. Dass „gieren“ in der Ex-Formulierung nicht i.S.v. „sexuell begehren“ verstanden werden darf, wie sich das in neueren Katechismen oft findet, versteht sich von selbst. So hat man das Wort dann sehr wahrscheinlich auch in der Dtn-Fassung zu verstehen: Auch hier geht es um das Haben-Wollen – nämlich als Schuldsklavin, vgl. Ex 21,2f.; CH §117 („Wenn jemand seine Schulden nicht begleichen kann und sich selbst, seine Frau, seinen Sohn oder seine Tochter für Geld verkauft oder als Zwangsarbeiter fortgibt, dürfen sie maximal drei Jahre im Haus ihres Käufers arbeiten...“) –, nicht um das „Beschlafen-Wollen“. (Zurück zu Lesefassung v.17) |
j | In der Ratio de catechizandis rudibus aus dem späten 8. Jhd. tauchen sie zwar wie in der Didache noch einmal als christliches Grundwissen auf. Das liegt aber nur daran, dass in dieser Ratio das Katechese-Programm aus De catechizandis rudibus von Augustinus (4.-5. Jhd.) umgesetzt werden soll (vgl. dazu Heer 1911, bes. S. 18-22.80-82; zu Augustinus Rentschka 1905). Die Synode von Lüttich von 710, die angeblich auch die Zehn Sprüche für die christliche Unterweisung verordnet, hat wohl nie stattgefunden (vgl. Steitz 1854, S. 122f. FN 2). Alkuins De decem verbis (8. Jhd.) und die entsprechenden Abschnitte in den Quaestiones super Exodum von Bede Venerabilis (8. Jhd.) zitieren nur die Quaestiones von Isidor von Sevilla, dem letzten Autoren der Antike. Sowohl die Ratio als auch die Auslegung von Alkuin und Bede hat man also als epigonale Auslegungen der antiken Interpretation aufzufassen. (Zurück zu Lesefassung v.17) |