Ex 20,18-26/Persönliche Fassung (Sebastian Walter)

Aus Die Offene Bibel

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Dies ist eine individuell verantwortete Textfassung. Sie ist Teil der Offenen Bibel, stammt aber in dieser Version nicht vom Gesamt-Team.

Persönliche Fassung

?. Der Sinai-Vertrag.
Teil II: Das Vertragsbuch.
Einleitung und Abschnitt 1: Das Altargesetz


Steinhaufen bei Gilgal. CC BY-SA 3.0: Staselnik via Wikimedia

18 Das ganze Volk sah unterdessen die Donnerschläge und die Feuer und das Schofar-Getöse und den rauchenden Berg. Da fürchtete sich das Volk, zitterte und stellte sich in der Ferne hin. 19 Dann sagten sie zu Mose: „Sprich du mit uns, dann wollen wir hören! Aber GOTT soll nicht mit uns sprechen, damit wir nicht sterben!“
20 Da antwortete Mose dem Volk: „Fürchtet euch nicht! GOTT ist gekommen, weil er euch erproben wollte, weil er wollte, dass die Furcht vor ihm euch vor Augen ist und ihr nicht sündigt!“

21 Während also das Volk in der Ferne stand, nahte sich Mose dem Wolkendunkel, wo GOTT war.
22 Dann sagte GOTT zu Mose: „Sag dies den Israeliten:


§1 Weil ihr gesehen habt, dass ich vom Himmel her mit euch gesprochen habe, 23 dürft ihr euch keine Götter aus Silber und Gold bei mir machen.
24 §2a Einen Altar aus Erde sollst du mir machen und auf ihm deine Brandopfer und deine Gemeinschaftsopfer, dein Kleinvieh und dein Rindvieh opfern! Überall, wo ich meinen Namen ausgerufen habe, werde ich zu dir kommen und dich segnen.
25 §2b Wenn du mir einen Altar aus Steinen machst, darfst du ihn nicht mit solchen bauen, die behauen wurden. Sonst hättest du dein Metallwerkzeug über sie gehoben, sie verletzt und so entweiht.
26 §2c Du darfst nicht auf Stufen auf meinen Altar hinaufsteigen, damit deine Scham nicht über ihm entblößt wird.


Ex 20,1-17 <= | [ => ]


Nachdem Gott in Ex 20,1-17 die Zehn Sprüche als ersten Teil des Vertragstexts zwischen ihm und dem Gottesvolk in spe offenbart hat, gibt dieses in Vv. 18-21 mit keinem Wort zu erkennen, dass sie auch den Inhalt dieses Vertragstexts registriert haben. Stattdessen sind sie panisch davongelaufen und haben sich in die Gottferne begeben. Wie die folgenden Ereignisse zeigen, ist das durchaus symbolisch zu nehmen.
In ihrer Furcht schicken sie Mose vor: Er soll nun für sie mit Gott sprechen. Dann werden sie Gottes Geboten Folge leisten, gewiss doch. Aber Gott selbst hören? Nein, das können sie nicht ertragen.

Mose scheint überraschend zufrieden zu sein mit dieser Reaktion. Genau das wollte Gott: Das Volk in Furcht versetzen, damit es umso bereitwilliger seinen Geboten Folge leistet. Damit, dass sie wirklich die erwünschte Reaktion zeigten, haben sie die entscheidende Probe bestanden; nun ist wirklich zu erwarten, dass das Volk sich nach der Offenbarung des Vertragstexts nicht dagegen vergehen wird. Wenn sich Gott und Mose da mal nicht irren...

Gott scheint ebenfalls zufrieden: Auch er knüpft mit „Weil ihr gesehen habt, dass ich vom Himmel her mit euch gesprochen habe“ an das „Sehen“ des Volks in V. 18 an (was wahrscheinlich auch der Grund dafür ist, dass in diesem Vers so unpassend vom „Sehen“ [von Donnerschlägen etc.] die Rede ist statt vom „Wahrnehmen“). Weil sie gesehen haben, wie Gott sich ihnen offenbart hat, gelten nun für sie als sein Vertragsvolk die Bestimmungen, die ab V. 22 erlassen werden.

Diese Bestimmungen sind als das „Bundesbuch“ bekannt geworden; treffender sollte man aber mit „Vertragsbuch“ übersetzen. Überwiegend ist diese Gesetzessammlung wahrscheinlich einer der ältesten Texte in der Bibel überhaupt, und auch älter als die beiden anderen großen Gesetzessammlungen der Bibel (nämlich die „deuteronomischen Gesetze“ in Dtn 12-26 und die „Heiligkeitsgesetze“ in Lev 17-26). Alle drei Gesetzessammlungen stehen in der Tradition altorientalischer Gesetzessammlungen, deren bekannteste die sumerischen Gesetze der Könige Ur-Nammu („CUN“, 22.-21. Jhd.) und Lipit-Ištar („CLI“, 19. Jhd.), die babylonischen der Könige Ešnunna („CE“, 20. Jhd.) und Hammurapi („CH“, 17. Jhd.), die hethitischen Gesetze („HG“, um 17.-16. Jhd.), die mittelassyrischen Gesetze („MaG“, 11. Jhd.), Reste neubabylonischer Gesetze („NbG“, 7./6. Jhd.?) und der ägyptische Rechtskodex von Hermupolis („CHerm“, 6. Jhd.?) sind.
Gemeinsam ist all diesen Gesetzssammlungen, dass sie umfassend in dem Sinne sind, dass sie Regeln zu verschiedensten Rechtsbereichen erlassen. In diesem Sinne lassen sie sich vergleichen mit unserem Grundgesetz oder unserem BGB. Andererseits sind sie aber nicht umfassend in dem Sinn, dass sie als Regeln für diese Rechtsbereiche auch
hinreichend wären. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Der CH setzt ein mit „Wenn ein Bürger einen anderen Bürger bezichtigt und ihm Mord vorwirft, ihn jedoch nicht überführt, so wird derjenige, der ihn bezichtigt hat, getötet.“ (TUAT I/1 44). Dass es überhaupt Rechtsinstitutionen geben soll, an die sich Bürger zur „Bezichtigung“ anderer Bürger wenden können, wird nicht eigens bestimmt, sondern vorausgesetzt. Ähnlich setzt das Bundesbuch ein mit Regeln dazu, mit welchen kultischen Gegenständen Gott verehrt werden darf. Dass es überhaupt Kultorte geben soll, an denen Gott verehrt wird, wird wieder nur vorausgesetzt. Gemeinsam ist den altorientalischen Gesetzessammlungen also, dass sie weniger Grundgesetzbücher als Sammlungen von Gesetzes-Novellierungen sind: Sie enthalten „nur“ umfassende Updates des Rechtswesens, das als Ganzes aber nicht durch Gesetzestexte geregelt, sondern Traditions-Recht ist.
Gemeinsam ist den Gesetzessammlungen außerdem, dass fraglich ist, ob sie überhaupt zur Anwendung kamen. So sind uns etwa aus dem babylonischen und akkadischen Sprachraum viele Gerichtsurteile u.ä. überliefert; explizit auf die alten Gesetzessammlungen Bezug genommen wird in diesen aber nie. Ähnliches gilt in der Bibel: Es finden sich zwar viele Erzählungen, für die die biblischen Gesetzessammlungen
relevant wären; deutlich auf diese Gesetzessammlungen wird aber auch hier nicht Bezug genommen. In mehreren Fällen wird in Erzählungen rechtlich ganz anders verfahren, als die Gesetzessammlungen es vorsehen, und besonders bei den Heiligkeitsgesetzen muss man sich häufiger sogar fragen, ob es auch nur in der Vorstellung der Autoren überhaupt realistisch war, dass sie je zur Anwendung kämen. Es ist daher gut möglich, dass auch die biblischen Gesetzessammlungen wie bes. wahrscheinlich der Codex Hammurapi weniger dazu dienten, das Rechtswesen auch de facto zu novellieren, als dazu, gelehrter Aufweis der Weisheit und Gerechtigkeit des Gesetzgebers zu sein (der in unserem Fall Gott ist).
Besonders bei den drei biblischen Gesetzessammlungen wird aktuell oft ein Drittes diskutiert: Sehr häufig scheinen sich die drei Gesetzessammlungen zu widersprechen. Klassisch erklärt man sich diese Widersprüche in der neueren Bibelwissenschaft mit dem Alter der Gesetzeswerke und damit, dass das jeweils jüngere das ältere novelliert habe. Neuerdings wird demgegenüber v.a. in der jüdischen und der konservativen christlichen Bibelwissenschaft allerdings wieder zunehmend in die Richtung gedacht, dass diese „Widersprüche“ vielleicht gar keine Widersprüche sind, sondern dass die jeweils jüngeren Erlasse die älteren nur
ergänzen sollen (vgl. dazu z.B. Berman 2016, 2019). Sehr überzeugend ist das bisher allerdings nur in wenigen Fällen.
Ein Letztes: In der älteren Bibelforschung wurden des Öfteren weitreichende Schlüsse aus dem angenommenen Alter der verschiedenen Gesetzessammlungen gezogen. So war man sich z.B. im 19./20. Jhd. weitestgehend einig: Je älter ein Text in der Bibel, desto mehr Würde kommt ihm zu, denn desto „echter“ und „ursprünglicher“ ist er. Heute ist das nicht mehr so; heute muss man sich fragen: Sind besonders alte Gesetzessammlungen wie das Vertragsbuch wirklich würdiger als die jüngeren Gesetzessammlungen? Oder haben alle qua biblische Gesetzessammlungen die gleiche Würde und den gleichen Wert? Oder sind schließlich die alten Sammlungen einfach nur alt und wurden selbst schon in der Bibel mehrfach überholt? Dies gilt für das Vertragsbuch umso mehr, als ja auch dieses wie die ursprünglichen Zehn Sprüche mit dem Zerbrechen der Vertragstafeln in Ex 32,19f. und dem Erlass von Ex 34 als neuem Vertragstext bereits im Verlauf der biblischen Erzählung selbst explizit überholt werden. Welcher Stellenwert kommt ihm also zu?

Der Beginn des Vertragsbuches verschärft diese letzte Frage noch. Er beginnt in Vv. 22b-23 wie die Zehn Sprüche (Ex 20,3-5) mit einem Verbot von Statuen fremder Götter und damit also gerade mit dem Gesetz, das die Israeliten in Ex 32 auch als erstes brechen. Darauf folgt in Vv. 24-26 das sogenannte „Altargesetz“. Um es recht einschätzen zu können, muss man wissen, dass besonders die Gesetzessammlung Dtn 12-26 – aber auch mehrere andere Texte und Textsammlungen des Pentateuch – besonderen Wert darauf legt, dass die offizielle Volksreligion Altisraels nur an dem einen Altar aus Gold und mit Treppe im Jerusalemer Tempel ausgeübt werden darf und dass der Kult dort primär von der Priestergruppe der Leviten getragen wird. All dem wird mit dem Altargesetz rundweg widersprochen: Erlaubt werden hier viele Altäre – aber sie dürfen nur aus Erde oder Steinen sein, falls aus Steinen, dürfen dies keine behauenen Steine sein, und falls aus unbehauenen Steinen, darf der Altar nicht bestiegen werden, und schließlich wird an ihnen auch nicht von Leviten geopfert, sondern von „dir“ – wieder also von allen Israelit:innen, an die sich das Vertragsbuch richtet. Dass speziell Gold für kultische Gegenstände nicht gut ist, wurde schon im §1 über die silbernen und goldenen Götterstatuen gesagt.

Man kann zur Not eine Theologie konstruieren, in der Dtn 12-26 und dieses Altargesetz miteinander harmonieren und einander ergänzen. Etwa: Dtn 12-26 will nur den Jerusalemer Tempel als einziges Wallfahrts-Heiligtum zulassen und das Altargesetz des Vertragsbuches spricht dagegen von allen anderen Altären, die zwar zulässig sind, aber schlichter als der prächtige Jerusalemer Altar sein müssen (so z.B. Foreman 2019). Aber aus dem Text lässt sich das mitnichten herauslesen. Oder: Die Bestimmungen hier gelten nur temporär; wenn die Israeliten dann in Israel angekommen sind, werden neue Altarbestimmungen erlassen werden (so z.B. Houtman 1997). Aber dito, und für den Erlass eines solchen nur temporären Altargesetzes wäre das Vertragsbuch als Israels neues Grund-Gesetz ein denkbar unpassender Ort. Die klassische Ansicht ist stattdessen: Das Altargesetz ist einfach älter und wurde später durch z.B. Dtn 12-26 abgelöst (so z.B. Mattison 2018, S. 51ff.). Aber das würde ja bedeuten, dass man beim Bau des Jerusalemer Tempels vollbewusst gegen jede einzelne der Bestimmungen hier verstoßen hätte. Umgekehrt wird heute gelegentlich angenommen: Man muss von der Situation des Exils im 6. Jhd. ausgehen, in der der Tempel zerstört worden war; nur für diese Situation werden nun auch schlichte Altäre und ein privater Opferkult erlaubt (so z.B. Chavel 2015). Aber das erklärte ja nicht, warum ein Altar wie der Jerusalemer gerade verboten wird. Am ehesten ist es daher wirklich so, dass hier sehr grundsätzlich und gezielt jedes einzelne Merkmal des Altars in Jerusalem als nicht gottgefällig und verboten bestimmt wird. Am wahrscheinlichsten ist dieses Altargesetz dann eine spätere Ergänzung zum alten Vertragsbuch, entweder durch L(aientheologen, s. die Historische Einführung, Abs. 1.4), die hier wie z.B. schon in der Jakobserzählung ihrer anti-jerusalemitischen Einstellung freien Lauf gelassen haben, oder durch Autoren, die in der kult-kritischen Tradition z.B. von Amos stehen und vor allem etwas gegen den ausbeuterischen Kult an Staats-Tempeln haben (so z.B. Osumi 1991, S. 175), und die damit den deuteronomischen Regelungen bewusst widersprechen wollten. Wer auch immer verantwortlich ist für diese spätere Ergänzung: Dank ihnen findet sich nun eben auch diese Theologie in der Bibel: Die religiöse Praxis in Jerusalem ist nicht gottgefällig. Gottgefällig ist einzig ein rudimentärer Opferkult, der gratis und mit Gelingensgarantie von jedem und jeder Angehörigen des Gottesvolks mindestens überall dort ausgeübt werden kann, wo sich Gott einmal offenbart hat (wie in Gen 26,24.25; Gen 28,13.16-18, oder eben hier, s. Ex 20,2; 24,4f.).