Das hebräische Wort אֲדֹנָי (Adonāi) bzw. אֲדֹנַי (Adonai: mein Herr, mein Gebieter) ist einer der häufigsten biblischen Gottestitel, vor allem als direkte Anrede an Gott.〈a〉 Es ist von dem sprachlich verwandten Wort אדן (Adon, Herr) abgeleitet. Zur Etymologie gibt es verschiedene Theorien. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Form mit Possesiv-Suffix („mein Herr“).〈b〉
Die Verwendung der Bezeichnung „mein Herr“ für den Gott der Bibel ist in erster Linie als Vertrauensaussage zu verstehen. Das Vertrauen hat seine Basis darin, dass dieser Gott allen anderen Herren überlegen ist.〈c〉 Zugleich betont die Anrede Gottes als Adonai die besondere Beziehung, die zwischen Israel und dem biblischen Gott besteht. In seiner Monographie zum Wort Adonai untersucht Martin Rösel die Verwendung des Wortes und kommt zu dem Ergebnis: „Daß Gott ‚Herr‘ genannt wird, ist folglich Ausdruck der biblisch-theologischen Einsicht, daß Gott nicht anders als in Beziehung zu seinem Volk gesehen werden kann.“〈d〉
Außerbiblisch wurde das Wort vor allem als Anrede für Menschen verwendet, und zwar sowohl für Höhergestellte als auch Gleichgestellte.〈e〉 Auch in der Bibel ist dieser Gebrauch belegt.〈f〉
Adonai als Ersatzlesung für den Gottesnamen JHWH[Bearbeiten]
In späterer Zeit wurde Adonāi außerdem als Ersatzlesung für den Gottesnamen JHWH verwendet – vermutlich, weil es ebenso wie der Gottesname selbst die Beziehung zwischen JHWH und seinem Volk betont. (Siehe Artikel zu JHWH.)
Ein Ersatz des Gottesnamen durch einen Herrentitel ist auch in anderen Religionen in der Umwelt Israels zu beobachten, so z.B. der Ersatz des Eigennamens „Marduk“ durch den Gottestitel „Baal“ (Herr).〈g〉
Im Anschluss an diese Ersatzlesung enthält die Septuaginta als Übersetzung des Gottesnamens in den meisten Fällen das griechische κύριος (kyrios). Dieser Konvention schlossen sich auch die Autoren des frühen Christentums im Neuen Testament an.〈h〉
Vertiefende Literatur[Bearbeiten]
- Rösel, Martin: Adonaj – warum Gott ‚Herr‘ genannt wird, Forschungen zum Alten Testament 29, Tübingen 2000
- Lust, Johan: The Divine Titles האדון and אדני in Proto-Isaiah and Ezekiel, in: van der Meer, Michaël N. / van Keulen, Percy S.F. / van Peursen, Wido / ter Haar Romeny, R. Bas (Hrsg.): Isaiah in context. Studies in honour of of Arie van der Kooij on the occasion of his sixty-fifth birthday, Leiden 2010
- J. Cornelis de Vos, Herr / Adonaj / Kyrios, in: Wibilex, Stuttgart 2006
Anmerkungen[Bearbeiten]
a | „Wichtig ist zunächst, daß die überwältigende Mehrheit der Vorkommen von אדון, אדוני und מרא, sofern sie sich auf Gott beziehen, in Gebetsanreden oder anderen liturgischen Texten sowie in hymnischen Bezeichnungen Gottes zu finden sind. Die Gottesbezeichnung אדוני hat folglich auch in dieser Zeit ihren Sitz im Leben vor allem in kultisch-liturgischen Zusammenhängen.“ (Rösel 2000, S. 220) (Zurück zu ) |
b | In den biblischen Handschriften gibt es zwei Varianten zum Wort אֲדֹנַי (Adonai): Für Menschen wird fast immer אֲדֹנִי (Adoni) verwendet, und für Gott fast immer אֲדֹנָי (Adonāi). Wie Martin Rösel aufzeigt, wäre bei dem Wort אָדוֹן (Herr, Gebieter) grammatikalisch eigentlich immer die Pluralform אֲדֹנַי (Adonai) zu erwarten (Rösel 2000, 30), denn die übrigen suffigierten Formen werden immer vom Plural gebildet (Ausnahmen: 1. Sam 16,16 und Prov 30,10). Sprachlich zu erwarten wäre also eigentlich, dass es immer אֲדֹנַי heißen müsste statt der drei Formen אֲדֹנִי, אֲדֹנַי und אֲדֹנָי. Eine plausible Erklärung für diese Besonderheit ist, dass die Masoreten eindeutig markieren wollten, ob sich das Wort hier auf Gott oder auf jemand anderen bezieht, und deshalb fast immer statt der Vokalisierung אֲדֹנַי die Varianten אֲדֹנִי oder אֲדֹנָי geschrieben haben: „Daher kann als sicher gelten, daß die Masoreten bewußt die eigentlich zu erwartende Form אֲדֹנַי vermieden haben und stattdessen zur Bezeichnung von Menschen das deutlich anders klingende אֲדֹנִי verwendeten.“ (M. Rösel 2000, 31) Die unterschiedliche Punktierung sei als „sekundärer Versuch“ (S. 31) der Differenzierung zu deuten und es sei davon auszugehen, „daß es im unpunktierten Text keine Differenzierung zwischen den beiden Formen gegeben hat.“ (S. 31) Vgl. auch den WibiLex-Artikel zu „Herr“ (Zurück zu ) |
c | „Gott wird also ‚Herr‘ genannt, weil man ihn als den Mächtigen und dennoch Nahen erlebt hat. Dieses Verständnis drückt sich in Psalmen bei bittenden Anrufungen und Vertrauensaussagen aus. Doch Gott wurde auch als ein eifernder Gott erlebt, dem es – um Zions willen – um gemeinschaftstreues Verhalten ging. Dann wurde er als ‚Herr‘ bezeichnet, wenn die Propheten das fehlerhafte Verhalten der menschlichen Herren anprangerten, wenn die Mißstände in Jerusalem untragbar geworden waren.“ (Rösel 2000, S. 229) (Zurück zu ) |
d | Rösel 2000, S. 230 (Zurück zu ) |
e | Rösel 2000, S. 26. (Zurück zu ) |
f | Rösel 2000, S. 27–28 und S. 31. (Zurück zu ) |
g | Rösel, S. 45–55. (Zurück zu ) |
h | de Vos 2006. (Zurück zu ) |