Benutzer:Sebastian Walter/Einleitung zur persönlichen Fassung

Aus Die Offene Bibel

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Allgemeine Einleitung[Bearbeiten]

In den Bibelwissenschaften ist in den letzten Jahren vieles in Bewegung gekommen. Einige neuere Erkenntnisse sind wichtig für Bibelübersetzungen. Sie sensibilisieren nämlich dafür, dass es häufig eben nicht genügt, biblische Texte nur zu übersetzen: Allzuviel Bedeutsames gerät aus dem Blick oder gar nicht erst in den Blick, wenn man Leser:innen nicht noch weitere Erläuterungen und Lektürehilfen an die Hand gibt. Besonders drei von diesen neueren Erkenntnissen haben mich daher bewogen, hier mit einer eigenen Übersetzung zu beginnen.

Zunächst gundsätzlich: Was ist die Bibel? – Zweifellos: Ein heiliges Buch. Sie ist ein Buch, aus dem man leben kann, aus dem über Jahrtausende Milliarden von Menschen gelebt haben und aus dem noch heute Milliarden leben. Doch damit ist nur etwas gesagt darüber, wie sie von Leser:innen geschätzt wurde und wird. Was ist die Bibel? – Ein Sammelwerk theologischer Literatur. Und über weite Strecken noch genauer: Ein Sammelwerk theologische Propaganda-Literatur. Jeder dieser drei Aspekte – die Bibel als theologisches Sammelwerk, die Bibel als propaganistisches Werk und die Bibel als literarisches Werk – hat Folgen für moderne Bibelübersetzungen. Ich will daher jeden dieser Aspekte kurz und allgemeinverständlich erläutern. Zu zwei dieser drei Aspekte habe werde ich außerdem eine ausführlichere Einführung mit wissenschaftlichem Anspruch verfassen, die Bibel-Leser:innen aber gerne überspringen können.

Mit theologisch ist erstens gemeint: In der Bibel sind mehrere Autoren und Autorenkreise miteinander im Gespräch, die verschiedene Bilder von Gott hatten, von anderen Göttern und davon, wie Menschen sich demnach zu Göttern und zueinander verhalten sollen. In diesem Schreibgespräch werden die einzelnen Gottes-Bilder und Menschen-Bilder entwickelt in Auseinandersetzung mit den Gottes-Bildern und Menschen-Bildern anderer theologischer Schriften, die früher geschrieben worden waren oder von Autor:innen benachbarter Völker geschrieben wurden.

Zur Bibel als „theologischem Sammelwerk“ gehört zweitens auch: Theologie getrieben wurde nicht nur von den biblischen Autoren in der Bibel, sondern auch noch nach „Vollendung“ der Bibel von späteren Theologen. So gibt es etwa verschiedenste Ansichten über die Zehn Gebote: Gibt es überhaupt einen Text, den die biblischen Autoren als die „Zehn Gebote“ präsentieren wollten? Falls ja: Welchen Stellenwert haben sie? Und handelt es sich dabei wirklich um den Text in Exodus 20 und Deuteronomium 5? Und falls ja: Welche Abschnitte in diesen Kapitel hat man jeweils als ein Gebot zu nehmen? Diese Fragen sind alles andere als klar. Sowohl im Judentum als auch im Christentum entwickelten sich daher unterschiedliche Interpretationen und Zählweisen der Zehn Gebote. Wie der Text der „Zehn Gebote“ richtig zu verstehen ist, kann zwar durch eine wissenschaftliche Erforschung des Textes erschlossen werden, wurde und wird de facto zumeist nicht durch Schriftauslegung, sondern durch dogmatische Theologie bestimmt. Solche Bestimmungen sind nicht „falsch“, sondern sind nur die Wahrnehmung des Textes durch eine andere (und geschichtlich bedeutsamere) Brille.

Ähnliches gilt für viele Texte. In der neueren Bibelwissenschaft hat sich daher der Fokus von einer einheitlichen „biblischen Theologie“ zur Vielfalt mehrerer „biblischer Theologien“ verschoben: Es wird nicht mehr angenommen, dass es die eine biblische Theologie gibt, die sich dann zum Beispiel eins zu eins in nur eine theologische Glaubenslehre übersetzen ließe, sondern es wird anerkannt, dass die Bibel theologisch ein zutiefst polyphones und dabei durchaus auch disharmonisches Sammelwerk ist, das auch unterschiedlichste Auslegungen zulässt, von denen wiederum einzelne unterschiedlich bedeutsam wurden für die Religionen, die sich nach Vollendung der Bibel entwickelten. Dieser Bewegung fühle ich mich verpflichtet: Theologische Spannungen und Dissonanzen in der Bibel dürfen nicht miteinander harmonisiert werden, sondern müssen umgekehrt herausgestellt werden, um die biblischen Texte richtig zu erfassen. Eine moderne Bibelübersetzung sollte außerdem zeigen, wenn ein Text auf theologisch bedeutsame unterschiedliche Weisen interpretiert wurde und wird, und danach fragen, ob er diese verschiedenen Deutungen tatsächlich auch zulässt.

Große Teile der Bibel sind Propaganda. Darüber besteht heute in der Bibelwissenschaft kaum mehr Uneinigkeit. Am leichtesten erkennen lässt sich dies an den historischen Schriften. Zum Beispiel ist man sich heute recht sicher, dass eine Eroberung Israels unter Josua nie stattgefunden hat, dass David und Salomo nie über ein großes Reich regierten, dass im fiktiven „Alten Israel“ nie nur der biblische Gott verehrt wurde, dass auch dieser nie nur am Jerusalemer Tempel verehrt wurde, dass auch die Verehrung des biblischen Gottes am Jerusalemer Tempel wahrscheinlich nie nur von Priestern angeführt wurde und so weiter. All dies aber wird in der Bibel vielfach behauptet. Das heißt jedoch nicht einfach, dass „die Bibel lügt“: Autoren verfolgen ein bestimmtes Interesse damit, wenn sie solche Falschbehauptungen aufstellen. Um die biblischen Texte angemessen in den Blick zu bekommen, muss daher auch jeweils gefragt werden: Was war historisch gesehen tatsächlich der Fall? Und welche Interessen wurden demnach damit verfolgt, dass die Geschichte anders dargestellt wurde? Auf dieser Seite entsteht daher aktuell ein Abgleich der biblischen Geschichtsschreibung mit dem, was wir archäologischen Ausgrabungen und Forschungen an zeitgenössischen Texten darüber entnehmen können, was geschichtlich „tatsächlich der Fall“ war.

Ebenso klar ist dieser Aspekt in prophetischer Literatur, die offen ideologisch manches menschliches Verhalten verdammt, anderes Verhalten fordert und für bestimmtes Verhalten als Lohn das „Heil“ verspricht. Er ist aber außerdem auch wichtig bei vielen zunächst scheinbar unverdächtigen Werken. So wurde etwa das Buch der Sprichwörter in einem historischen Kontext gesammelt, in dem nach geschichtlichen Umbrüchen die Identität Israels brüchig geworden war. Die Sammlung der Sprichwörter diente auch einem ähnlichen Zweck wie die Sammlung von Volksmärchen durch die Brüder Grimm: Wie diese versuchten, mit den gesammelten Märchen den „Kulturschatz des deutschen Volkes“ zu heben und so die nationale Identität der Deutschen „zu pflegen“, diente auch die Sammlung der Sprichwörter der Kulturpflege Altisraels. Und ohnehin ist es ein eminent politisches Projekt, wenn Sprichwörter wie „Verehre GOTT und den König; schließe dich keinen Revoluzzern an!“ (Spr 24,21) oder „Wenn gesetzlose Menschen an der Macht sind, müssen sich die Bürger verstecken. Wenn sie aber umkommen, können sich die Gerechten vermehren“ (Spr 28,28) als Volksweisheit gesammelt und verkauft werden. Es ist ein ebenso politisches Unterfangen, im Buch der Psalmen bestimmte Gebete als kanonische Gebete aufzunehmen und andere auszuschließen. Das lässt sich am klarsten erkennen, wenn man darauf achtet, wie in diesem Buch neben Privatgebeten auch Gebete für den König oder Gebete gegen bestimmte Feinde in den religiösen Kanon eines Volkes aufgenommen wurden.

In der neueren Bibelwissenschaft nennt man die Richtung, die besonders auf diesen politischen Aspekt biblischer Texte Rücksicht gibt, „ideologiekritische Auslegung“. Darin liegt nicht nur die ideologie-sensible Frage danach, welche Ideologien in biblischen Texten verschriftlicht wurden, sondern außerdem die kritische Abwägung, ob eine bestimmte Ideologie heute noch zeitgemäß sein kann. Häufig muss man diese Frage mit einem klaren „Nein“ beantworten. Ideologiekritik nicht zu betreiben, ist daher nicht nur nachlässig, sondern geradezu gefährlich. Eine moderne Übersetzung der Bibel hat daher die Pflicht, übersetzte Texte auch ideologiekritisch zu kommentieren.

Die Bibel ist schließlich Literatur. Das heißt zunächst grundsätzlich: Wichtig ist bei biblischen Texten nicht nur, was geschrieben wurde, sondern auch, wie es geschrieben wurde. Das beginnt schon, um noch einmal an den letzten Punkt anzuknüpfen, damit, dass viele biblische Texte narrative Prosa sind. Das ist ein Novum im Alten Orient: Vor den biblischen Erzählungen kennen wir narrative Prosa vor allem aus Königsinschriften, aus offiziellen Annalen, aus Briefen von Beamten und Adeligen und kurz zuvor aus propagandistischer ägyptischer Literatur wie den „Erzählungen des Wenamun“ (vgl. z.B. Pioske 2022). Erzählungen wie die vom Anfang der Welt, wie sie uns in den ersten Kapiteln begegnen, wurden stattdessen in Form von Epen erzählt. Es ist daher bedeutsam, wenn biblische Autoren stattdessen an diese politischen Erzähltraditionen anknüpfen, wenn sie ihre Erzählungen als narrative Prosa formulieren. Sodann: Vor allem seit den 60er und 70er Jahren hat sich in den Bibelwissenschaften die Richtung des „Rhetorical Criticism“ entwickelt. Grundannahme dabei ist: Autoren sagen nicht nur etwas damit, was sie sagen, sondern auch damit, wie sie es sagen. Biblische Texte müssen daher, um sie adäquat in den Blick zu bekommen, auch mit den Mitteln und Methoden der modernen Literaturwissenschaft ausgelegt werden. Und schließlich: Aktuell ist vor allem in den USA und in Skandinavien eine bibelwissenschaftliche Richtung am Entstehen, die davon ausgeht, dass „biblische Poesie“ anders gefasst werden muss, als sie seit dem 18. Jahrhundert gefasst wird. Weiter angenommen wird hier dann erstens, dass deutlich mehr biblische Texte doch Poesie statt Prosa sind – also zeilenweise verfasste Texte, bei denen dann zum Beispiel auch bedeutsam sein kann, welche Worte zu Beginn und am Ende einer Zeile stehen oder wie mehrere Zeilen zusammenspielen, und Texte, bei denen selbst Häufungen bestimmter Konsonanten oder die Abfolge einzelner Vokale den „Sinn“ biblischer Texte beeinflussen kann. Zweitens wird oft zwischen Prosa und Poesie eine ebenfalls zeilenweise verfasste Zwischenstufe angenommen, die ich „Prosagedicht“ nennen will. Über dieses Thema promoviere ich aktuell; auf dieser Seite werde ich eine kurze Einführung verfassen, sobald ich fertig geforscht habe. Schon jetzt lässt sich aber sagen: Wenn Vertreter dieser bibelwissenschaftlichen Richtungen richtig liegen, verliert man wieder entscheidende Aspekte der biblischen Texte aus dem Blick, wenn man diese ihre literarische Seite vernachlässigt.

Für eine moderne Bibelübersetzung heißt dies:

  1. Jedem Abschnitt der Bibel folgt eine kurze Kommentierung, in der besondere Rücksicht darauf genommen wird, was die historischen Hintergründe dieses Abschnitts sind, welches theologisches und politisches oder ideologisches Interesse er verfolgt und wie er zu diesem Zweck „literarisch funktioniert“.
  2. Die Übersetzung selbst ist keine reine Leseübersetzung wie die Gute Nachricht-Bibel oder die Neue evangelistische Übersetzung. Das Hauptaugenmerk der Übersetzung liegt darauf, es Leser:innen zu ermöglichen, bedeutsame literarische Gestaltung der biblischen Texte nachzuvollziehen. Dafür nehme ich es in Kauf, auch sperrigere Texte zu produzieren. Um nur ein Beispiel zu geben: Im Buch Genesis, wo viele Figuren sprechende Namen haben, scheint es mir geboten, diese Namen auch sprechen zu lassen. „Jakob“ etwa ist daher „Fers“, seine Frauen heißen nicht „Rahel“ und „Lea“, sondern „Zibbe“ und „Kuh“. Anders ginge eine ganze Dimension des Buches Genesis verloren.
  3. Einzelne Passagen, auf die aus den oben genannten Gründen näher eingegangen werden muss, werden in Fußnoten kommentiert. Ich unterscheide dabei mehrere Fußnoten-„Gattungen“:
    1. lit.“: Erläuterungen zur literarischen Gestaltung.
    2. theol.“: Erläuterungen zur Theologie der Passage oder zu späteren theologischen Auslegungen. Zudem:
    3. bed.“: In manchen Fällen scheint mir unabhängig von Theologie, Ideologiekritik oder literarischer Gestaltung eine andere Deutung plausibler als die in den Standard-Kommentaren. Oft hat dies auch Auswirkungen auf die Formulierung der Übersetzung und wird daher in „Deutungs“-Fußnoten vermerkt.
    4. tech.“: Manche dieser Deutungen lassen sich nur erläutern, indem auf Feinheiten der hebräischen Grammatik eingegangen wird. Das lässt sich häufig nicht allgemeinverständlich tun. Wer des Hebräischen nicht mächtig ist, soll mit dieser Einleitung vorgewarnt werden: „Lieber überspringen“.
    5. txt.“: Der Wortlaut der Bibel ist an vielen Stellen umstritten, weil er entweder unverständlich ist oder weil alte Textüberlieferungen mehrere Textvarianten bezeugen. Wo ich einem anderen Text folge als die maßgeblichen kritischen Editionen (v.a. BHS und BHQ), ist dies hier vermerkt. Auch diese Fußnotengattung ist selten allgemeinverständlich und daher auch Warnung: „Lieber überspringen“.
    6. red.“: Es ist nicht nur so, dass einzelne Texte von unterschiedlichen Autoren stammen. Besonders in den ersten fünf Büchern haben Autoren gelegentlich auch direkt in Texte ihrer theologischen Gegner hineingeschrieben und so diese Texte entstellt. Die bibelwissenschaftliche Disziplin, solche Passagen zu erkennen, nennt man „Redaktionskritik“, daher „red.“. Weil diese Passagen es häufig erschweren, das ursprüngliche theologische oder ideologische Anliegen und die literarische Gestaltung eines Textes gut nachvollziehen zu können, habe ich in Fällen, in denen mir dies geboten schien, die spätere Ergänzung in diese Fußnoten verschoben und dort kommentiert.


=> Gen 1-2,3