Benutzer Diskussion:Sebastian Walter/Biblische Poesie

Aus Die Offene Bibel

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In den Bibelwissenschaften ist in den letzten Jahren vieles in Bewegung gekommen. Einige von diesen neueren Erkenntnissen und Akzentsetzungen haben mich bewogen, hier mit einer eigenen Übersetzung zu beginnen. Zuvorderst sind dies (1) neue Erkenntnisse über das Wesen biblischer Poesie, (2) neue Theorien zu lyrischer Prosa in der Bibel und (3) neue Theorien zur antiken Deklamation biblischer Texte. Diese werden unten in der „wissenschaftlichen Einführung“ erläutert. Zuvor will ich hier in aller Kürze in einem Disclaimer meine Perspektive auf die Bibel offenlegen:

(1) Zunächst und zuvorderst gilt für mich: Die Bibel ist ein heiliges Buch. Das heißt nicht, dass damit sakrosankt und unbezweifelbar ist, was die Bibel sagt: Historisch gesehen „stimmt“ sehr wenig in der Bibel. Dass die Bibel „heilig“ ist, heißt vielmehr: Sie ist Grundlage des jüdischen und christlichen Glaubens – sie ist ein Schatz aus Geschichten, Gedichten und alten Weisheiten und Gesetzen, aus denen jüdische und christliche Glaubende leben können, ohne dass sie deshalb etwa ihre Geschichten für „historisch wahr“ oder ihre oft nur aus der antiken Weltsicht erklärbaren Gesetze für „noch heute gültig“ halten müssten. Die wichtigste Aufgabe einer Bibelübersetzung scheint mir daher, dass sie aufzeigt, was genau das jeweils ist, woraus man da leben kann, wenn man sich von diesem „brennend Wort“ (Daniel Warner) anstecken lässt.

(2) Die Bibel war schon lange ein heiliges Buch: Seit mindestens 2000 Jahren haben jüdische und christliche Glaubende aus der Bibel gelebt und in dieser Zeit viel Wertvolles aus der Bibel gehoben, aber auch vieles, was durch die Bibel so nicht gedeckt ist. Was derart ungedeckt aus der Bibel gehoben wurde, kann natürlich trotzdem richtig sein; es scheint mir aber dennoch geboten, in solchen Fällen immerhin darauf hinzuweisen, wenn die Bibel zu Unrecht verwendet wurde, um etwas zu begründen, was später Gegenstand des Glaubens wurde.

(3) Die Bibel ist antike Literatur, und sie ist sperrige Literatur. Was sich aus ihr heben lässt, liegt allzu oft nicht als „Schatz im Acker“ direkt vor der Haustür, sondern man muss lange in fernen Ländern graben, um zu bergen, was durch die Strukturierung der Texte, durch Wortspiele, durch Anspielungen auf andere Texte und Weiteres nur zwischen die Zeilen geschrieben wurde.

Vor allem die letzte Eigenschaft der Bibel war es, die mich zu diesem Projekt bewogen hat: Es gibt sehr viele solcher verborgener Schätze, und allzu oft werden sie sowohl durch eine wörtliche Übersetzung als auch durch eine freie Übertragung nur noch zusätzlich verschüttet. Die Übersetzung hier soll daher weder „wörtlich“ noch „frei“ sein, sondern allem voran so, dass dort, wo man einen solchen verborgenen Schatz vermuten darf, sich dies möglichst auch an der Übersetzung nachvollziehen lässt.

=> Inhalt und historische Einführungen
=> Gen 1-2,3


Wissenschaftliche Einleitung[Bearbeiten]

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Biblische Poesie[Bearbeiten]

...

(4.1) Biblische Poesie ist Poesie im Vollsinn.
Diese Aussage ist nicht selbstverständlich; in der Bibelwissenschaft galt lange und gilt noch heute überwiegend, dass die biblische Poesie eine Art „Poesie auf Schwundstufe“ sei: Ihr einziges Charakteristikum sei der sog. „Parallelismus membrorum“. In der klassischen Konzeption von Robert Lowth (18. Jhd.) heißt das: Poetische Verse in der Bibel bestehen regulär aus jeweils zwei oder drei Halbzeilen (im Folgenden: „Kola“, Einzahl: „Kolon“), die entweder

  • (a) das Gleiche sagen: „synonymer Parallelismus“, z.B.: „Darum werden Gesetzlose im Gericht nicht bestehen / und Sünder [werden] im Rat der Gerechten [nicht bestehen].“ (Ps 1,5)
  • (b) Gegenteiliges sagen: „antithetischer Parallelismus“, z.B.: „JHWH kennt=behütet den Weg der Gerechten, / der Weg der Gesetzlosen aber wird verderben.“ (Ps 1,6)
  • (c) nur grammatisch ähnlich gebaut sind: „synthetischer Parallelismus“, z.B. „(Wie glücklich der Mann, der) dem Rat der Frevler nicht folgte / und auf dem Weg der Übeltäter nicht stand / und im Kreis der Spötter nicht saß!“ (Ps 1,1)

Neue Entwicklungen der Forschung in diesem Zusammenhang sind:
(4.1.1) Auch bei den Texten, die klar „Poesie“ sind, sind nicht viele Kola derart „parallel“ (so bes. James Kugel).

...

(4.2) In der Bibelwissenschaft hat man u.a. deshalb neben diesen drei Formen des Parallelismus nach weiteren gesucht – und sie gefunden: Mittlerweile kennt man in der Bibelwissenschaft z.B. „emblematische Parallelismen“, „Gabelparallelismen“, „Gender-Parallelismen“, „konsequentielle Parallelismen“, „Parallelismen der größeren Präzision“ usw. (was das jeweils heißen soll, braucht uns hier nicht zu bekümmern); man hat weiters sogar den „synthetischen Parallelismus“ aufgeteilt in den „syntaktischen Parallelismus“ und den „synthetischen Parallelismus“ im Vollsinn, was so viel heißen soll wie: „eigentlich gar nicht parallele, aber irgendwie doch verwandte Kola“; und schließlich hat man noch gesehen, dass Vershälften nicht nur semantisch oder grammatisch parallel sein müssen, sondern z.B. auch (zusätzlich) lautlich („phonologische Parallelismen“) oder lexikalisch („Wortpaar-Parallelismen“) parallel sein können. Vgl. zu diesen Entwicklungen bes. die Schriften von Adele Berlin, Wilfred Watson und z.B. Dobbs-Allsopp 2015, S. 148f.; Gaines 2015, S. 37-51.

(4.3) Eine erste Reaktion auf diese Entwicklungen waren verwandte Bestrebungen, diese Vielzahl an neuen Parallelismen wieder zu reduzieren. James Kugel etwa dampfte alle Parallelismen daher ein auf die Formel „A, and what's more, B“ (1981, S. 58), d.h. ein Kolon B führe irgendwie Kolon A fort. Ähnlich hat Alter versucht, alle Parallelismen unter dem gemeinsamen Nenner zusammenzubringen, Parallelismus sei eine Technik, bei der ein Kolon B ein Kolon A präzisiere oder intensiviere (1985, S. 19). Burden hat 1986, S. 173 diese beiden Tendenzen einander als Alternativen gegenübergestellt: War zuvor die grundlegende Streitfrage, ob bestimmend für die biblische Poesie Metrum oder Parallelismus sei, war es nun die, ob bestimmend eine literarische Technik des Parallelismus sei oder viele. Burden entscheidet sich für Letzteres:

Kugel (1981: 58) remarks: „Biblical parallelism is of one sort, ‚A, and what's more, B,‘ or a hundred sorts; but it is not three“. [...] I, however, opt for „a hundred sorts“, since there is a great variety of possibilities. [...A] systematic investigation of every book of the Old Testament is necessary to enable us to evaluate the full measure of parallelism as a literary device. [...] The whole range of structural, grammatical, syntactic, semantic and phonetic aspects must also be carefully considered.

(4.4) Zeitgleich dazu wurde die bibelwissenschaftliche Parallelismus-Idee zunächst in der Linguistik und dann in der allgemeinen Literaturwissenschaft rezipiert und dort anders weiterentwickelt: Etwa seit den 30er Jahren wird „Poesie“ dort häufig verstanden als Kompositionen, in denen die Form(ulierung) bedeutsam ist. „Dichtung“ zeichnet sich also zuvorderst aus durch die besondere „Dichte“ poetischer Texte, d.h. dadurch, (a) dass diese Texte Gewebe sind, in denen alle Text-Elemente – Laute, Wörter, Wortfügungen, Ausdrücke, ... – durch Verstrebungen und Verwebungen im Text unterschiedlichst aufeinander bezogen sein können, (b) indem sich entweder gleiche oder variante Text-Elemente auf jeder Sprachebene feststellen lassen, (c) und dass Hörer:innen und Leser:innen von Dichtung nicht nur Wort- und Satzsemantik, sondern außerdem diese verschiedensten Bezüge zwischen Text-Elementen als bedeutsam auffassen. Für ein Bsp. s. gleich; zur Idee s. z.B. die unten aufgeführten Schriften von Tynjanov, Jakobson, Lotman, Schulte/Sasse, Eagle, Shapiro, Riffaterre, Küper usw.

(4.5) In den neueren Literaturwissenschaften sind es diese unterschiedlichsten und nicht systematisierbaren Textbezüge, die man als „Parallelismus“ bezeichnet. Im Folgenden werde ich „Parallelismus“ in diesem Sinne verwenden.
Diese Idee aus den neueren Literaturwissenschaften ist neuerdings in die Bibelwissenschaft zurückgewandert. Wenn ich richtig sehe, hat Clines 1987 (an den Kaiser 2019 anschließt, s.u.) den Anstoß gegeben, indem er wie Burden Kugels Diktum kommentiert:

James Kugel was entirely right in asserting, as against a crude popularization of Lowthian parallelism, that „Biblical parallelism is of one sort ... or a hundred sorts; but it is not three“. But I believe he is wrong to describe the „one sort“ as a matter of „A, and what's more, B“, since that restricts the relationship of the lines to those of emphasis, repetition, seconding, and so on. The relationships of A and B are so diverse that only some statement such as „A is related to B“ will serve as a valid statement of all parallelistic couplets. (1987, S. 94)

Anders als z.B. Berlin und Watson sprechen ähnlich neuerdings viele Bibelwissenschaftler nicht mehr von klassifizierbaren „Parallelismen“, sondern entsprechend Clines „relationships“ z.B. von „unterschiedlichen Balancen“ (Fitzgerald 1991, S. 204: lautliche, morphologische, metrische, semantische, syntaktische und weitere Balancen), „unterschiedlichen Rekurrenzen“ (Nel 1992; Nel 1993; Wendland 2017, S. 4f.; danach Weber 2006, S. 142-145: Rekurrenzen auf phonologischer, prosodischer, morphologischer, lexikalischer, semantischer und syntaktischer Ebene), „unterschiedlichsten Wiederholungen“ (Majewski 2020, S. 209: sonorische, morphologische, lexikalische, syntaktische, semantische, logische, temporale „Ähnlichkeiten“); „unterschiedlichsten Korrespondenzen“ (Teeter 2022, S. 459-461: sämtliche logische Relationen zwischen Zeilen, Relationen in der Gestaltung von Kola – morphologisch, lexikalisch und semantisch – und sämtliche lexikalisch-semantische Relationen) oder von „unterschiedlichen Kohäsions-Stiftern“ (Ayars 2018, z.B. S. 39: grammatisch-syntaktische Wiederholung, lexiko-grammatische Wiederholung, lexiko-grammatische Kollokation, lexiko-semantische Wiederholung, lexiko-semantische Kollokation, Koreferenten, Konjunktionen, Ellipsen).
Mit solchen Modellen lässt sich biblische Poesie weit genauer erfassen. Bei einem Vers

ma´neh rak jašib ḥemah
wadebar-´aṣb ja´leh `ap
„Eine sanfte Antwort verwandelt den Zorn,
aber ein kränkendes Wort erregt den Grimm“ (Spr 15,1)

etwa lässt sich danach nicht nur beobachten, dass in beiden „Halbzeilen“ Gegensätzliches steht und man es also mit einem „antithetischen Parallelismus“ zu tun hat, und dass sie grammatisch gleich gebaut sind und man es also außerdem mit einem „grammatischen Parallelismus“ zu tun hat, sondern z.B. auch, dass die Worte „Antwort“ und „Wort“ und „Grimm“ und „Zorn“ einander entsprechen und dass die Lautfolgen ma´neh rak („eine sanfte Antwort“) und ja´leh `ap („erregt den Zorn“) auch aufgrund der identischen Lautfolgen a´ – e – a lautlich aufeinander bezogen sind. Es lässt sich also insgesamt beobachten, dass beide Kola von einer Vielzahl von Bezügen auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen gleichzeitig durchwaltet sind; und sodann lassen sich all diese Bezüge als Basis einer Interpretation nehmen.

(4.6) Gleichzeitig hat man „interne Parallelismen“ entdeckt, bei denen nicht Vershälften parallel sind, sondern Glieder innerhalb von Vershälften, nicht-benachbarte „externe Parallelismen“ (Robinson 1952, S. 28), die man noch weiter untergliedert hat in „Nah-Parallelismen“ und „distante Parallelismen“ (z.B. Heim 2013, S. 29-32; Pardee 1988, S. 168-192; Reymond 2004, S. 19; ähnlich Couey 2015, S. 100-107.111-121; Watson 1986, S. 187-189). Andere Forscher:innen haben diese „Nah-Parallelismen“ genauer untersucht und v.a. gegliedert in Formen, die man als „Kreuzparallelismen“ (ABAB), „Schweif-Parallelismen“ (ABBA) und „Chiasmen“ (ABCBA) bezeichnen könnte, aber auch dies sind nur Sonderformen, die mir wieder eine unangemessene Einengung zu sein scheinen. Zwei Beispiele:

a Gebt JHWH, ihr Söhne der Starken,
b Gebt JHWH Herrlichkeit und Stärke!
c Gebt JHWH die Herrlichkeit seines Namens;
d Betet JHWH an in heiliger Pracht!
e Die Stimme JHWHs ist auf den Wassern,
f Der Gott der Herrlichkeit donnert,
g JHWH auf großen Wassern!“ (Ps 29,1-3)

Man könnte hiervon ausgehend versuchen, Kolon a-d zu analysieren als eine Art unreinen Schweif-Parallelismus A-B-B-C und die drei letzen Zeilen als Trikolon (DE-D-E). Mit einer solchen Analyse verliert man aber aus dem Blick, dass zwischen Kolon a und bc natürlich trotzdem enge Bezüge herrschen, dass Kolon d trotz anderer Formulierung eng auf diese drei Kola bezogen ist, weil es sie alle reformuliert, und dass in Kolon c und f das Wort „Herrlichkeit“ wiederholt wird.

a Siehe, ich versehe mit Antimon deine Steine
b Und deine Fundamente mit Saphiren
c Und ich mache rubinen deine Zinnen
d Und deine Tore zu Karfunkel-Steinen
e Und dein ganzen Grenzen zu Edel-Steinen!“ (Jes 54,11f.)

Klassisch würde man Kolon ab als Bikolon und Kolon c-e als Trikolon analysieren. Damit gerät aus dem Blick, wie kunstvoll diese Zeilen gebaut sind: a und b einerseits und c und de andererseits sind zwar wirklich durch Ellipsen aufeinander bezogen (also AABBB). Gleichzeitig aber sind erstens natürlich alle Kola dadurch verwoben, dass in jedem Kolon ein Bestandteil Zions und der Name eines Edelsteins steht (also AAAAA), zweitens sind a und c einerseits und b und de andererseits grammatisch äquivalent gebaut (also ABABB), drittens stehen lexikalisch Kolon b gegen Kolon c („Fundamente“ vs. „Zinnen“ > [unten] vs. [oben]) und Kolon d gegen Kolon e („Tor“ vs. „Grenzen“, für ähnliche Gegensätze s. Hld 8,9 [„Tür“ vs. „Mauer“]; Jes 60,18; Jer 51,58 [„Tor“ vs. „Mauer“]) (also ABBCC), und viertens sind sowohl Kolon a als auch Kolon e gleichzeitig beigeordnete Glieder in dieser fünfgliedrigen Reihung als auch Kola b-d übergeordnet, da Fundamente, Zinnen und israelitische Tore aus „Steinen“ bestehen und da „Grenzen“ mehrdeutig ist und sowohl auf die Wälle als auch auf das Gebiet Zions, in dem Fundamente, Zinnen und Tore liegen, referieren kann (also ABBBA).
Ganz richtig also Cloete 1989, S. 215: „It seems that binarism has been overemphasised in many studies of Hebrew verse [...]“: Beim ersten Beispiel ist etwa Kolon c nicht nur „parallel“ mit Kolon b, sondern außerdem herrschen Bezüge zwischen Kolon c und a, Kolon c und d und Kolon c und f, und beim zweiten Beispiel ist etwa Kolon e nicht nur parallel mit Kolon cd, sondern es herrschen außerdem Bezüge zwischen e und a und zwischen e, b und d.
Die Konzentration auf Bi- und Trikola verstellt also den Blick darauf, dass charakteristisch für biblische Poesie erstens eine Vielzahl von Bezügen zwischen Kola auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen gleichzeitig ist, und dass dies nicht nur für benachbarte Kola gilt, sondern dass diese Bezüge als „distante Parallelismen“ auch stets ganze Gedichte durchwalten können. Vgl. so z.B. Kaiser 2019, S. 36:

Ich definiere Parallelismus i.A. als Verhältnis (relationship) in Form und Bedeutung, ohne eine Klassifikation in Parallelismus-Typen vorzunehmen. Ich stimme überein mit der Einschätzung von Clines, dass das, was biblische Poesie so anziehend macht, die Anforderung an den Leser und Hörer ist, jedes Set an parallelen Kola zu untersuchen auf ihre einzigartigen, oft überraschenden Verhältnisse. Meine Untersuchung unterscheidet sich jedoch darin von Clines und vielen anderen Forschern zur hebräischen Poesie, dass sie die Behauptung bestreitet, Bikola oder Zweizeiler (und gelegentlich Dreizeiler) seien die basalen Bausteine aller biblischer Poesie. Das heißt, ich bin der Auffassung, selbst Clines offene Formulierung „A steht im Verhältnis zu B“ mag für manche Poesie der hebräischen Bibel adäquat sein, nicht aber für eine Untersuchung prophetischer Poesie, in der zwei- oder dreizeilige Einheiten nicht notwendigerweise die Norm sind. (Meine Üs.).

Prosa und lyrische Prosa[Bearbeiten]

(5) Das bringt uns zur zweiten neuen Erkenntnis: Biblische Prosa ist (bisweilen) poetisch.
Seit den späten 80ern hat man in der biblischen Prosa ein Phänomen wiederentdeckt, das man schon früher bisweilen als „gehobene Prosa“, „epischen Stil“ o.Ä. beschrieben hat, und neu gefasst als „narrative Poesie“ (s. z.B. Christensen 1985; 1987; 1992; de Hoop 1988; de Moor 1984; 1986; Kim 1993; Koopmans 1988; 1994; Korpel 2001; Roersma 1993; Tsumura 1993 u.a.). Gemeint sind damit keine Balladen, sondern: Nicht nur in der biblischen Poesie gibt es distante Bezüge zwischen Kola, sondern häufig lässt sich Entsprechendes auch in biblischer Prosa feststellen (wo dann allerdings die Nah-Bezüge von Vers-Parallelismen fehlen). Kapitel, in denen dieses Charakteristikum dominant ist, müsste man daher als eine Art Zwitter zwischen Poesie und Prosa betrachten: Mindestens eignen dann ja auch ihnen

  • (1) die Versform – mit allem, was sonst daraus folgt,
  • (2) „Parallelismus“ (dazu s.o.)
  • (3) „Dichte“; auch bei ihnen ist also die Form(ulierung) bedeutsamer als bei gewöhnlicher Prosa.

Für viele Literaturwissenschaftler würden diese Charakteristika ausreichen, um die besagten Kapitel sogar als Poesie im Vollsinn aufzufassen (z.B. Burdorf 2015, S. 10f.13; Fabb 2015, S. 1f.; Lamping 2000, S. 23; Waldmann 2021, S. 12; Wiedemann 1995, S. 427-431; Zymner 2009, S. 96). Für die biblischen Texte ist das aber nicht sehr adäquat (auch der Begriff „narrative Poesie“ ist es nicht): Unterscheidungskriterium ist ja das formale, dass dominant nicht der Vers-Parallelismus ist, sondern der distante Parallelismus. Ich will daher lieber von „lyrischer Prosa“ sprechen.
Beispiele für solche lyrische Prosa gibt es einige. Bereits das erste Kapitel der Bibel, das von sehr vielen als „narrative Poesie“ aufgefasst wird (z.B. Davis 2008, S. 42-65; Harshav 2014, S. 54f.; Majewski 2020; Marlowe 2016; Polak 2002; Robinson 2009), ist ja offensichtlich nicht lineare Prosa, sondern in jedem Abschnitt stehen mehrere Wendungen (z.B. „so geschah es“, „und Gott sah, dass es gut war“ usw.), die relativ regelmäßig immer wieder wiederholt werden; Gen 1 besteht also sogar überwiegend aus „distanten Parallelismen“. Ein ähnliches Beispiel: Am 1-2 wird fast durchgehend als Poesie analysiert. Dabei lassen sich in gar nicht vielen benachbarten Kola Parallelismen erkennen; leitendes Strukturprinzip ist vielmehr auch hier die Wiederholung wieder mehrerer äquivalenter Wendungen (z.B. „Wegen drei Freveltaten von X und wegen vier werde ich's nicht rückgängig machen“, „darum werde ich Feuer senden nach Y und es wird die Paläste von Z fressen“ usw.). Zwei andere Beispiele noch: Magonet 1976, S. 32 hat stark nach Fränkel und Cohn die „growing phrase“ als Charakteristikum auch der Prosa-Kapitel des Jonabuches identifiziert, z.B.:

„Und die Seeleute fürchteten sich“ (Jon 1,5)
„Und die Männer fürchteten sich mit großer Furcht“ (Jon 1,10)
„Und die Männer fürchteten sich mit großer Furcht vor JHWH“ (Jon 1,16),

oder

„Es entstand ein großer Wüten im Meer“ (Jon 1,4)
„Denn das Meer wütete weiter“ (Jon 1,11)
„Denn das Meer wütete weiter gegen sie“ (Jon 1,13).

Ein letztes Beispiel: Hld 1,7f. ist ein auffällig wenig paralleles Gedicht. Auch hier scheint das leitende Strukturprinzip stattdessen wie in Gen 1 und Am 1-2 der distante Parallelismus zu sein:

Hld 1,7
Hld 1,8
a Sag mir, du, den meine Seele liebt, b Wenn du es nicht wissen wirst,
b Wo du weiden wirst,
Wo du lagern lassen wirst am Mittag,
a Schönste unter den Frauen,
c Damit ich nicht sein muss eine Wandernde c Folge den Spuren der Schafe
d Bei den Herden deiner Gefährten! d Und weide deine Zicklein bei den Zelten der Hirten!


Beide Strophen enthalten mit (a) ein Epitheton, (c) trifft sich im Wandern der Frau, in (d) gehen die „Herden“ mit den „Zicklein“ und die „Gefährten“ mit den „Zelten der Hirten“ parallel; (b2) ist gar nicht parallel, aber rekurriert auf (b1). Unterstrichen wird in diesem Fall mit dieser auffälligen Formulierung, dass der Angesprochene die Liebende gerade dazu auffordert, was sie doch eigentlich vermeiden wollte (was Leser:innen zu einer Such-Bewegung veranlässt: Warum könnte das der Fall sein, dass der Angesprochene hier so merkwürdig spricht?).
Dass sich solche Charakteristika sowohl aufzeigen lassen an Texten, die man klar als Prosa einordnen würde (Gen 1; Jon 1) als auch an solchen, die zweifellos Poesie im Vollsinn sein sollen (Hld 1,7f.; Am 1-2), zeigt, dass zumindest in dieser Hinsicht die Grenzen zwischen Poesie und Prosa fließend sind. Man könnte ein Kontinuum annehmen:

Prosa
lyrische Prosa
Poesie
===== Poetizität =====>
-
distanter Parallelismus
=> Dichte
Versparallelismus
distanter Parallelismus
=> Dichte

Formulierung, Deklamation und lyrische Prosa vs. Poesie[Bearbeiten]

(6) Aufmerksamen Leser:innen wird aufgefallen sein, dass in dieser Tabelle die Versform nicht vorkam. Aus Gründen; dies bringt uns nämlich zur dritten neueren bibelwissenschaftlichen Entwicklung: In der hebräischen Bibel stehen nicht nur Konsonanten und Vokale, die die alten Schreiber auf unterschiedliche Weisen in Zeilen angeordnet haben, sondern außerdem mit den „masoretischen Akzenten“ zusätzliche Lesezeichen. Diese Lesezeichen zeigen an, wie ein biblischer Vers zu deklamieren sei, und sie können anzeigen, welche biblischen Verse poetische Verse sein könnten.
Ich werde die Grundprinzipien der masoretischen Akzentuierung gleich sehr knapp erläutern, aber dieses Phänomen ist so komplex und diffizil, dass interessierte Leser:innen auf die Seite Die masoretischen Akzente verwiesen seien. Grundsätzlich ist es aber so: In den meisten Büchern der Bibel stehen 18 sogenannte „trennende“ Akzente und weitere sog. „verbindende“. Wichtig für die Interpretation sind vor allem die trennenden. Das Prinzip, nach dem mit diesen akzentuiert wird, hat man auf zwei unterschiedliche Weisen verstanden:
(a) Die 18 Akzente lassen sich nach ihrer „Trenn-Stärke“ in eine Reihenfolge bringen: Der Akzent „Silluq“ wäre z.B. der stärkste, der Akzent „Athnach“ der zweitstärkste, die Akzentvarianten „Segolta“ und „Zaqef“ die drittstärksten, der Akzent „Rebia“ der viertstärkste usw. Und mit diesen würde dann so akzentuiert, dass biblische Verse immer wieder halbiert werden (die Akzentfolge unten ist nicht korrekt; sie soll nur das Prinzip veranschaulichen):

Vers
Erste Vershälfte |Athnach
Zweite Vershälfte |Silluq
Erstes Viertel |Segolta
Zweites Viertel |Athnach
Drittes Viertel |Zaqef
Viertes Viertel |Silluq
1. Achtel |Rebia 2. ~ |Segolta 3. ~ |Rebia 4. ~ |Athnach 5. ~ |Rebia 6. ~ |Zaqef 7. ~ |Rebia 8. ~ |Silluq

Wichtige neuere Akzentforscher, die die Akzente so interpretieren, sind Aronoff 1985; Breuer 1958; Cohen 1969; Dotan 1972; Dresher 1994 und Yeivin 1980; eine Variante dieser Interpretation vertreten Fuller / Choi 2017; Park 2020 und Price 2010.

(b) Die zweite Interpretation ist komplizierter, es ist aber diese Interpretation, die ich durchaus für richtig halte. Unter neureren Akzentforschern wurde sie nur vertreten von Janis 1987; er greift damit aber zurück auf viele ältere Akzentforscher wie Ackermann 1893; Hirt 1762; Japhet 1896; Sancke 1740; Spanier 1927; Wasmuth 1664 und Weimar 1709.
Sehr grob zusammenfassen lässt es sich so: Äußerungen bestehen in der Aussprache nicht aus „Hauptsätzen“, „Nebensätzen“, „Phrasen“ usw., sondern aus „Intonationsphrasengruppen“ (G), „Intonationsphrasen“ (I) und „prosodischen Phrasen“ (P). Man spreche sich etwa einmal die Äußerung vor:

Arpaksad zeugte Schelach, und Schelach zeugte Heber. Und dem Heber wurden zwei Söhne geboren: Der Name des einen war Peleg, denn in seinen Tagen wurde die Erde verteilt. Und der Name seines Bruders war Joktan. (Gen 10,24f.)

Syntaktisch müsste man gliedern wie folgt:

S1: Arpaksad zeugte Schelach
S2 und Schelach zeugte Heber.
S3 Und dem Heber wurden zwei Söhne geboren:
S4: Der Name des einen war Peleg,
S5 denn in seinen Tagen wurde die Erde verteilt.
S6: Und der Name seines Bruders war Joktan.

„Phrasiert“, also „in der Aussprache durch Betonungen, End-Dehnungen, Sprechpausen und Neu-Einsätze gegliedert“, wird aber anders:

G1 [Àrpaksad]P1 [zeugte Schélach]P2 |I1
[und Schèlach]P3 [zeugte Héber]P4 |I2
G2 [Und dem Hèber]P5 [wurden zwei Sőhne geboren:]P6 |I3
G3 [Der Name des èinen]P6 [war Péleg,]P7 |I4
[denn in sèinen Tagen]P7 [wurde die Érde verteilt.]P8 |I5
G4 [Und der Name seines Brùders]P9 [war Jóktan.]P10 |I6

In jeder Sprache ist es nämlich so, dass Äußerungen gegliedert werden mindestens in Intonationsphrasen und prosodische Phrasen. Intonationsphrasen entsprechen dabei grob der syntaktischen Größe des einfachen Satzes, prosodische Phrasen grob der syntaktischen der Phrase. Jede prosodische Phrase hat neben Wortakzenten (wie in der Name seines Bruders der Wortakzent auf -a- in Name und auf -u- in Bruders) auch einen noch stärkeren „Phrasenakzent“ (weshalb in dieser Phrase Bruders stärker betont wird als Name), und jede Intonationsphrase hat neben Wortakzenten und Phrasenakzenten auch einen noch stärkeren „Intonationsphrasenakzent“ (weshalb in dieser Intonationsphrase Joktan noch stärker betont wird als Bruders). Nach jeder prosodischen Phrase macht man außerdem eine Sprechpause, nach jeder Intonationsphrase eine noch längere Sprechpause. Dies sind sprachliche Universalien.
Mindestens im Deutschen und Bibelhebräischen ist es außerdem so, dass mehrere Intonationsphrasen zu Intonationsphrasengruppen zusammengeschlossen werden können, die dann dominiert werden von jeweils einem noch stärkeren Intonationsphrasengruppen-Akzent und nach denen noch längere Sprechpausen gemacht werden.a Im Beispiel oben zum Beispiel hängen Intonationsphrase 1 und Intonationsphrase 2 in der Phrasierung miteinander enger zusammen als mit Intonationsphrase 3, weil ihre beiden parallelen Sätze einen Konjunktivsatz bilden. Ähnlich hängen Intonationsphrase 4 und Intonationsphrase 5 miteinander enger zusammen als mit Intonationsphrase 6, weil ihre beiden Sätze in einem Hauptsatz-Nebensatz-Gefüge verbunden sind. Dass es dieses Phänomen im Deutschen gibt, lässt sich aber ja leicht durch Nachsprechen nachvollziehen.
Entscheidend nun: Im Hebräischen gibt es dieses Phänomen ebenfalls; es lässt sich nämlich aus der Akzentuierung ablesen: Die 18 trennenden Akzente lassen sich erstens grob gliedern in „stark trennende Hauptakzente“ (Ds) und „schwach trennende Vorakzente“ (Dv). Und zweitens lassen sich zwei regelmäßige Akzentfolgen bilden: Eine Akzentfolge nur der stark trennenden Hauptakzente und eine Akzentfolge der stark trennenden Hauptakzente und der schwach trennenden Vorakzente (s. Akzentfolge des tiberischen Prosa-Systems; zum leichteren Verständnis verwende ich unten andere Indizes als dort). Akzentuiert wurde dann so, dass biblische Verse zunächst aufgegliedert wurden in Intonationsphrasengruppen, diese dann in Intonationsphrasen und diese dann wiederum in prosodische Phrasen, und dass dann in drei Durchgängen von hinten nach vorne nach den regulären Akzentfolgen zunächst die Intonationsphrasengruppen mit starken Hauptakzenten markiert wurden, dann die Intonationsphrasen ebenfalls mit starken Hauptakzenten und zuletzt die prosodischen Phrasen sowohl mit starken Hauptakzenten als auch mit schwachen Vorakzenten. Wäre Gen 10,24f. nur ein Vers (die Gliederung in biblische Verse ist älter als die masoretische Akzentuierung), hätte man also zunächst gegliedert und akzentuiert:

G1: Arpaksad zeugte Schelach, und Schelach zeugte Heber. |D3s
G2: Und dem Heber wurden zwei Söhne geboren: |D2s
G3: Der Name des einen war Peleg, denn in seinen Tagen wurde die Erde verteilt. |D1s
G4: Und der Name seines Bruders war Joktan. |D0s

Dann weiter:

Arpaksad zeugte Schelach |D4s
und Schelach zeugte Heber. |D3s
Und dem Heber wurden zwei Söhne geboren: |D2s
Der Name des einen war Peleg |D2s
Denn in seinen Tagen wurde die Erde verteilt. |D1s
Und der Name seines Bruders war Joktan. |D0s

Dann noch einmal weiter:

Arpaksad |D4v
zeugte Schelach |D4s
Und Schelach |D3v
zeugte Heber |D3s ...,

und in einem letzten Schritt wären die noch unakzentuierten Wörter mit verbindenden Akzenten oder Bindestrichen versehen worden.

Dies nun lässt sich wiederum für die Unterscheidung der drei oben genannten Gattungen fruchtbar machen: Poesie, lyrische Prosa und „prosaische Prosa“ unterscheiden sich nämlich nicht nur darin, ob sie dominant parallelistisch formuliert sind und ob daher ihre „Dichte“ dominant ist, sondern auch in der regulären Länge ihrer Intonationsphrasen. Poetische Intonationsphrasen können sehr wohl recht lang sein: „Damit ich nicht sein muss eine Wandernde bei den Herden deiner Gefährten“ (Hld 1,7) etwa ist ja auch zu lang für ein Kolon und muss daher auf zwei enjambierende Kola aufgeteilt werden. Auch lange Intonationsphrasen sind also „poesie-fähig“. Die Regel ist aber, dass biblische Poesie überwiegend so formuliert ist, dass Intonationsphrasen sich mit Kolongrenzen decken. Bei „prosaischer Prosa“ und auch „lyrischer Prosa“ ist das nicht so; lange Sätze wie „Hiermit gebe ich euch alles fruchtbringende Getreide auf der ganzen Erde und alle Fruchtbäume“ (Gen 1,29) oder „Und die Männer fürchteten sich mit großer Furcht vor JHWH“ (Jon 1,16) sind in biblischer Poesie bei Weitem nicht so häufig zu erwarten, wie sie in prosaischer und lyrischer Prosa stehen. Ein weiteres Unterscheidungskriterium ist also die Bündigkeit in der Formulierung:

Prosa
lyrische Prosa
Poesie
===== Poetizität =====>
ungebundende Formulierung
ungebundende Formulierung
bündige Formulierung
-
distanter Parallelismus
=> Dichte
Versparallelismus
distanter Parallelismus
=> Dichte

Folgerungen[Bearbeiten]

Für eine Übersetzung, die sensibel ist für diese Charakteristika biblischer Literatur, folgt daraus:

  • In der Bibel finden sich nicht nur prosaische Texte, poetische Texte und Gesetzestexte, sondern „Prosa“ und „Poesie“ muss genauer differenziert werden in „prosaische Prosa“, „lyrische Prosa“ und „Poesie“. Auch Gesetzestexte können in lyrischer Prosa formuliert sein.
  • Sowohl bei lyrischer Prosa als auch bei Poesie muss die Größe der Zeile besser erkenntlich werden: In der lyrischen Prosa schon dadurch, dass der Text überhaupt zeilenweise dargeboten wird; in der Poesie dadurch, dass die Größe der Zeile befreit wird von ihrer Einbindung in „Bikola“ und „Trikola“. Diese gibt es zweifellos in der Poesie. Aber erstens ist ein Kolon nicht notwendig Teil eines Bi- oder Trikolons, was in der Vergangenheit klar überbetont wurde, und zweitens werden auch Kola in Bi- und Trikola quer zu ihrer Einbindung in diese größeren Strukturen durchwaltet durch weitere Bezüge zu anderen Kola. Ich verzichte daher im Folgenden auf eine Gliederung biblischer Poesie in Bi- und Trikola: Wo sie offensichtlich ist, erkennt man sie ohnehin gleich; wo sie nicht offensichtlich ist, muss ja gerade dies Leser:innen zu einer Suchbewegung veranlassen. Das soll diese Übersetzung ermöglichen.
  • Solche Bezüge zwischen Kola in lyrischer Prosa und in Poesie erzeugen „Dichte“ und sind damit bedeutsam auch für die „Aussage“ ihrer Texte. Eine der wichtigsten Aufgaben einer Bibelübersetzung muss es daher sein, solche Bezüge entweder in der Übersetzung oder immerhin durch Anmerkungen nachvollziehbar zu machen.

Das klingt nicht nach viel. Mehr als ein Drittel des Alten Testaments aber ist Poesie, und nimmt man die lyrische Prosa hinzu, die man erst seit Kurzem wieder entdeckt hat, hat dies Auswirkungen auf gut die Hälfte des Textes des Alten Testaments.

Transkriptionen[Bearbeiten]

Ein letztes Wort noch zu Transkriptionen: Spreche ich in Fußnoten über hebräische Wörter, zitiere ich stillschweigend nicht den Wortlaut, wie ihn der Masoretische Text bietet, sondern die mutmaßlich ursprüngliche Lautung. Grob orientiere ich mich dabei an den Rekonstruktionen von Richter in der BHt. Mit zwei Unterschieden:
Kurze e- und o-Laute sind bei Richter zurückgeführt auf ihre ursprünglichen Lautwerte i und u. Wir wissen nicht genau, wann dieser Lautwandel stattfand; klar ist aber, dass er vor der Abfassungszeit der Septuaginta ab dem 3./2. Jhd. v. Chr. geschehen sein muss. Bei der Rekonstruktion der Lautung dieser Vokale gehe ich daher mit (fast?) allen anderen Rekonstrukteuren nicht mit Richter mit und belasse stattdessen die Lautung des MTs.
Manche Kurzvokale hat Richter nicht rekonstruiert, sondern offen gelassen, weil ihr Lautwert so unsicher ist. Insbesondere sind das die Kurzvokale der präfigierten Präpositionen b-, l- und k-. Deren Lautwert ist mittlerweile aber relativ sicher. Sprachgeschichtlich dürfte er ursprünglich -a- gewesen sein (vgl. Blau 2010, S. 170). Man erkennt dies auch erstens noch an den Fügungen bak („zu dir“) und lak („für dich“), zweitens daran, wenn man (ältere) griechische mit (jüngeren) lateinischen Transkriptionen von Eigennamen vergleicht (z.B. gr. Basaloth gegen lat. Besloth, gr. Basodia gegen lat. Besodia; auch gr. + lat. Lahel / Laäl, lat. Lamuel), drittens daran, dass auch noch Origines diese Laute überwiegend mit -a- widergegeben hat (z.B. Ps 35,18: b?qahal = bakaal; Ps 18,31: l?kol = lachol; Ps 49,15: k?ṣo`n = chason, vgl. z.B. Kantor 2017, S. 321). Diese Vokale lassen sich daher guten Gewissens als -a- rekonstruieren. Etwas unsicher sind sie nur, wenn sie vor Gutturalen, Resch oder -j- stehen, da hier auch schon LXX voraussetzt, dass der fragliche Vokal an den folgenden Laut angeglichen wurde (z.B. Zorobabel statt Zerobabel, Jo- im Anlaut aller Jaho-Namen usw.). Auch hier orientiere ich mich daher an der LXX.

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