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6 So spricht JHWH:
„Wegen dreier Vergehen von Israel
- Und wegen vier werde ich es nicht widerrufen,
Weil sie für Geld verkaufen den Gerechten
- Und den Armen wegen eines Paars Sandalen –
7 [Sie], die gieren (schnüffeln, treten) nach (auf) dem Staub der Erde auf dem Kopf der Geringen (Schwachen),〈a〉
- und [die] beugen den Weg der Armen!〈b〉
Ein Mann und sein Vater gehen zu dem[selben] Mädchen
- Und entweihen [so] meinen heiligen Namen;
8 Auf gepfändeten Mänteln sind sie ausgebreitet (strecken sie aus?, strecken sie sich aus?)〈c〉
- Neben jedem Altar
Und trinken Wein von Strafgeldern
- Im Haus ihres Gottes.
...
13 Siehe, ich spalte unter euch [den Boden] (ich drücke nieder, werde niedergedrückt, hemme, knarre, schwanke)〈d〉
- Wie der Wagen, der voll mit Garben ist, [den Boden] spaltet!
a | gieren (schnüffeln, treten) - Auf den ersten Blick „gieren, schnüffeln“, von heb. scha`ap. Unter neueren Exegeten wird fast einheitlich nach LXX und Syr angenommen, dass dies scha`ap hier stattdessen eine NF von schup („treten“) sei, also: „Sie treten den Kopf der Geringen in den Staub“. Doch das ist nicht wahrscheinlich; Am 2,7 ist klar parallel mit Am 8,4 formuliert (wie V. 6 parallel mit Am 8,6 formuliert ist) und dort ist das Verb sicher scha`ap. Auch davon abgesehen ist keine der beiden Varianten schön oder klar. Schön sind sie deshalb nicht, weil erstens die grammatische Konstruktion merkwürdig ist: Der Vers wird eröffnet mit einem durch Artikel als Relativpartikel eingeleiteten partizipialen Relativsatz, dessen Bezugswort („Israel“) aber noch in 6b und damit sehr weit entfernt steht. LXX und Syr sahen sich dadurch gar veranlasst, das Verb auf die Sandalen zu beziehen: „wegen eines Paars Sandalen, welche treten...“. Ungewöhnlich ist auch die Fortsetzung dieses partizipialen Satzes durch einen Waw-X-Yiqtol-Satz; dies (oder die Fortsetzung durch einen Waw-X-Qatal-Satz) findet sich sehr selten in der Bibel, fast ausschließlich in poetischen Texten, aber allein fünf Mal im kurzen Amosbuch – s. noch Am 5,8f. (2x); Am 6,6.; 9,6 (s. ähnlich zu dieser recht seltenen Konstruktion Dtn 33,9; 1 Sam 22,17; Ps 37,28; 69,34; Spr 2,17; Jes 3,12; 5,23; 43,25; 46,6; Jer 10,12; 17,8; Zef 1,6). Drittens wird sowohl scha`ap als auch schup stets mit direktem Objekt konstruiert. Hier folgen aber zwei Präpositionalphrasen: „auf dem/den Staub der Erde“ (´al) und „{ Klar ist der Vers deshalb nicht, weil auch nach einer Streichung von b und einer Deutung als „gieren, schnüffeln“ verschiedenste Deutungen und Auflösungen möglich sind: (1) „sie gieren nach dem Staub auf dem Kopf der Geringen“, d.h. sie sind so gierig, dass sie Geringen selbst den Staub nicht gönnen, den diese sich wie in Israel üblich in Trauerfällen auf den Kopf streuen (die klassische dt. Deutung bis zum 20. Jhd. Erwogen auch in CTAT III, S. 684. So z.B. Hitzig 1881, S. 113: „[Der Geringe] hat als Zeichen seines Jammers Staub auf sein Haupt gestreut (Hiob 2,12; 2 Sam 1,2); auch darnach, weil es auch noch ein Stückchen Grund ist, giert das Auge des Habsüchtigen.“). (2) „auf dem Staub (stehend) gieren sie nach dem (Kopf der) Geringen“ (Raschi). Ausführlicher Eliezer von Beaugency: Mit „im Staub (kriechend)“ würden die reichen Israeliten als Schlange dargestellt, die danach trachtet, den Geringen in den Kopf zu beißen. Ähnlich TUR: „Die schnappen – auf der Erde Staub – der Armen Haupt“. Nach der Variante von Raschi und TUR wäre „auf dem Staub“ aber sehr redundant; für die metaphorische Deutung von Eliezer ist die kurze Phrase zu knapp, um die Zeile als Metapher zu kennzeichnen. (3) „sie gieren nach Staub auf dem Kopf der Geringen“, d.h. sie gieren danach, dass es den Armen so schlecht geht, dass sie sich aus Trauer Staub auf den Kopf streuen (z.B. Keil 1866, S. 180; Orelli 1888, S. 257; auch ELB 1905: „sie, welche danach lechzen, den Staub der Erde auf dem Haupte der Armen zu sehen“. So schon David Kimchi; erwogen auch in CTAT III, S. 684. (3) passt besser zum Folgenden als (1), dagegen sprechen aber die Akzente, die „Staub der Erde“ enger mit dem Verb zusammenschließen als mit dem „Kopf des Armen“) (4) „sie gieren nach Staub zum Preis (des Kopfes=) des Lebens der Geringen“ (so van Ess: „sie trachten nach dem Staub der Erde um der Armen Haupt“. Freier Michaelis 1782, S. 29: „Gierig sind sie auf etwas Erdschollen, die dem Armen das Leben kosten“; Struensee 1773, S. 217: „Sie trachten Staub der Erde zu gewinnen, sollte der Arme auch darüber zu Grunde gehen.“) (5) „sie schnüffeln im Staub nach (dem Kopf des=) dem Armen“ wie ein Jagdhund (Garrett 2008, S. 58f. Aber natürlich wurde im Alten Israel nicht mit als unrein geltenden Hunden gejagt). (Zurück zu v.7) |
b | den Weg beugen - Gemeint ist vielleicht: „Sie verstoßen gegen das Recht der Armen“ (so schon Kimchi; z.B. auch Eidevall 2017, S. 115). Für dieses Verständnis setzt man i.d.R. an am ähnlichen Ausdruck in Spr 17,23 („Die Gesetzlosen beugen die Pfade des Rechts“, brechen also das Gesetz. Selbes Verb, anderes Nomen, spezifiziert durch Genitiv „Pfad des Rechts“) und geht dann davon aus, dass „Straße“ als Synonym von „Pfad“ wie in „Pfad des Rechts“ auch ohne die Spezifikation „des Rechts“ für „das Gesetz“ stehen könne. Gegen dieses Verständnis spricht, dass derek („Weg“) und selbst oreach („Pfad“) ohne mischpat („Recht“) in der Bibel sonst nie diese Bed. hat; die Interpretation lässt sich aber gut stützen durch Tg, der derek mit din („die Rechtssache“) übersetzt. Die Alternativen jedenfalls sind noch weniger wahrscheinlich: Jeweils wird gedeutet in Orientierung an Ijob 24,4 („sie stoßen Bedürftige vom Weg“; selbes Verb, selbes Nomen, aber mit Präp. m „vom“ vor „Weg“) und angenommen, dass „den Weg beugen/stoßen“ hier auch „vom Weg stoßen“ meinen könne. Damit sei dann gemeint: (1) Eine rein körperliche Handlung (z.B. Rudolph 1971, S. 142: „Sie werden rücksichtslos angerempelt“). Oder: (2) Ähnlich Fleischer 1989, S. 61: Der Weg, von dem die Armen gestoßen werden, ist konkret der „Weg zum Gericht“, den die Armen also nicht einschlagen können, um so ihr Recht einfordern zu können. Oder, ebenfalls ähnlich (3) Hitzig 1881: „Durch solches Thun eben bringen sie ehrliche Leute in's Unglück, wörtlich: sie beugen den Weg derselben seitwärts, d.i. stossen sie aus dem Wege (Hiob 24,4) in's Umwegsame, so dass ihr Lebensweg ein rauher, ungebahnter wird.“ – sie „stoßen sie aus der Bahn“. Ähnlich auch Smith 1998, S. 121, der frei übersetzt: „They manipulate the afflicted's way of life“. Ähnlich schließlich (4) Raschi, Eliezer von Beaugency, Ehrlich 1912, S. 231: Der Satz sei schlicht ein Bild dafür, dass die Armen aus Furcht vor den Reichen einen anderen Weg nehmen. Aber jeweils spricht mindestens eben dagegen, dass hier keine Präp. vor derek steht, die Ehrlich z.B. daher hier ergänzen will. (Zurück zu v.7) |
c | sie sind ausgebreitet (sie strecken aus?, sie strecken sich aus?) - Das Verb in 8a („sich ausstrecken“) ist das selbe wie in 7b („beugen, stoßen“), wird hier aber offensichtlich anders verwendet. Fast alle nehmen auf Basis der Üss. von Aq, Sym, Syr und Tg („sich hinlegen“) an, dass es „sich ausstrecken“ = „sich hinlegen“ bedeutet; aber das kann wohl nicht sein. Das Wort wird häufig verwendet und ist stets transitiv („etwas wird ausgebreitet oder gebeugt“); reflexiv oder intransitiv („man selbst streckt sich aus“ oder „ist ausgestreckt/ausgebreitet“) dagegen nur bei den drei Nifal-Verwendungen in Num 24,6; Jer 6,4; Sach 1,16. Diese aber wären mit dieser Zeile nicht gut vergleichbar, wenn hier wirklich von „sich hinlegen“ die Rede wäre: In Num 24,6 reiht sich Zelt an Zelt und insofern sind die Zelte in der Fläche „ausgebreitet“, in Jer 6,4 und Sach 1,16 werden entweder „die Schatten länger“ oder „eine Schnur wird gestreckt“. Ehrlich 1912, S. 233 schlägt vor, statt dem Hifil jattu („etwas ausstrecken“) den Nifal jittu („sich ausstrecken“) zu lesen, aber davon hat man dann wenig, da auch das Nifal von nth nicht in der Bed. „sich hinlegen“ belegt ist – dafür gibt es eine ganze Reihe anderer und häufig verwendeter Worte. Jeremias 1995, S. 19 vermutet dagegen, die Verwendung sei elliptisch für nth mittah „ein Lager ausbreiten“, aber das, was nach dieser Verwendung dann ausgebreitet würde, ist ja gerade der Mantel als mittah („Lager“), auf dem sich aber in diesem Vers das nth abspielt. Garrett 2008, S. 62 schließlich, der die „Mädchen“ in V. 7 für Kultprostituierte hält, vermutet, dass auch dieses Wort vielleicht als Euphemismus gebraucht wird: „Sie strecken aus“ = „Sie strecken [das Mädchen] auf gepfändeten Mänteln aus [und schlafen mit ihm]“. Das ist möglich, für eine solche Verwendung fehlt bisher aber jedes Indiz. Das Wort ist also etwas rätselhaft. Die am wenigsten problematische Option dürfte sein, tatsächlich mit Ehrlich jittu zu lesen, aber das Wort in Orienterung an Num 24,6 zu verstehen: Die reichen Israeliten lagern in großer Zahl dicht an dicht neben den Altären und sind insofern „ausgebreitet“ wie die große Zahl an Zelten in Num 24,6. (Zurück zu v.8) |
d | ich spalte unter euch [den Boden] (ich drücke nieder, werde niedergedrückt, hemme, knarre, schwanke) - heb. ´uq, unsicheres Wort. Schon die alten Versionen erschließen offenbar die Bedeutung rein aus dem Kontext, bes. aus der Verwendung zus. mit „Wagen“. LXX: „Ich rolle unter euch, wie ein Wagen rollt“, Aq: „Ich knarre unter euch, wie ein Wagen knarrt“, VUL: „Ich quietsche unter euch, wie ein Wagen quietscht“. Tg und Syr verwenden das ähnliche aram./syr. Wort ´aqah „bedrücken, bedrängen“, was aber auch nur ein geratener false friend sein könnte. Fast alle diese Bedd. werden auch heute noch diskutiert: (1) Am nähesten liegt wegen dem aram. Kognat zunächst sicher die Deutung von Tg und Syr. ´uq wäre die aramäische Variante von ṣuq („bedrängen, bedrücken“), das bes. häufig im Kontext der kriegerischen Belagerung einer Stadt verwendet wird (s. Jes 7,6; Jes 29,2.7; vgl. auch Dtn 28,53.55.57; Jer 19,9) und daher bes. gut zu Vv. 14-16 passt. Das Gegenargument von Gese 1962, S. 418, ein solcher Aramäismus sei hier nicht zu erwarten, greift schwerlich; fast das selbe Phänomen begegnete ja bereits in Am 1,11. So schon Raschi und Ibn Ezra, viele Exegeten des 18. und 19. Jhd.s; unter den jüngeren z.B. Gordis 1979/80, S. 218; Stuart 1987; Hayes 1988, S. 118f.; auch PAT, TAF. Am schwierigsten an dieser Deutung ist natürlich, dass die Präp. „unter“ sich schwer erklären lässt: „Ich bedrücke { (2) Ähnlich z.B. Baur 1847; Garrett 2008: „Ich werde niedergedrückt“, was zwar viel besser zur Präp. „unter“ und zum Bild vom Wagen passt, aber sprachlich schwer erklärlich wäre – Partizip Hifil von ṣuq ist klar transitiv. (3) Besser daher: Gese vergleicht das mischnahebräische ´uqah („Aushöhlung, Mulde“) und das arab. ´qq („aufschlitzen, zerreißen“), auf das schon Hitzig hingewiesen hat, und nimmt von hier aus eine Bed. „aufspalten“ an: „Ich werde unter euch (durch ein Erdbeben den Boden) aufspalten, wie ein schwerer Erntewagen (den Boden) aufspaltet“. So z.B. auch Wolff 1969, Jeremias 1995, Smith 1998, Hamborg 2008, S. 180. Ob die Spuren eines Erntewagens aber tatsächlich ein naheliegendes Bild für ein Erdbeben sind, ist doch sehr fraglich, und auch in den folgenden Versen deutet nichts auf ein Erdbeben hin. Sehr zufriedenstellend ist dieser Vorschlag also auch nicht, ist aber sprachlich der unproblematischste. (4) Cripps 1955, S. 148 und Paul 1991, S. 94 u.a. vergleichen arab. ´wq „hemmen“ und übersetzen ebenfalls „unter euch“ als „an eurem Platz“ (was möglich ist, s.o.), also: „Ich werde euch an eurem Platz festsetzen, wie ein Wagen mit Stroh sich festfahren kann“. So schon Eliezer von Beaugency; auch HER05, MEN, SLT. Zum Folgenden passt dies aber gerade schlecht, bes. nicht zu V. 16 – und auch davon abegesehen wäre „ich werde euch hemmen“ eine eher seltsame Drohung. (5) Maag, Mays, Rudolph, Soggin, Eidevall, Kessler u.a. vergleichen arab. ´auq „Biegung“ und leiten von hier (!) die Bed. „schwanken“ ab, die auch durch einige Tg-Mss gestützt wird. Ähnlich B-R, EÜ, HfA, LUT 17, NeÜ, ZÜR. Auch dies soll wieder das Erdbeben aus Am 1,1 anzeigen. Aber die arabische Etymologie ist unwahrscheinlich (s. Gese 1962, S. 418 FN 1) und schwach; die Tg-Variante ließe sich auch leicht durch eine Verlesung von me´iq und ta´iq als mepiq und tapiq von piq („schwanken“) erklären, was dann auch zu den zwei unterschiedlichen Tg-Varianten geführt hätte, und hat also einen geringen Wert. (6) Selbst das „knarren“ von Aq und das „quietschen“ von VUL hat in der älteren Exegese einige Anhänger gefunden, da es auch hierfür ein einigermaßen passendes arab. Kognat gibt (gegen dieses Kognat aber richtig Gese 1962, S. 418) und wohl v.a., weil schon Luther so in seinen Amos-Vorlesungen deutete. So daher z.B. Justi 1810, Sellin 1922, Weiser 1929; noch LUT 1912, GN („Ich werde auch bestrafen, dass ihr ächzt und stöhnt wie ein überladener Erntewagen“); seitdem aber wenig überraschend nicht mehr. (Zurück zu v.13) |