Syntax ungeprüft
Studienfassung (Exodus 19)
1 Zum dritten Neumond (Im dritten Monat), nachdem die (Söhne Israels=) Israeliten aus dem Land Ägypten ausgezogen waren, an diesem Tag (am selben Tag, am ebensovielten Tag)〈a〉 kamen sie in die Wüste Sinai (Sin):〈b〉 2 Sie zogen von Refidim fort, kamen in die Wüste Sinai und lagerten in der Wüste. Israel lagerte dort gegenüber dem Berg.〈c〉
3 Mose indes stieg hinauf zu Gott.〈d〉
Und JHWH rief ihm vom Berg her zu {wie folgt}:
„So sollst du (zum Haus Jakobs=) zur Familie Jakobs sagen
und den (Söhnen=) Kindern Israels〈e〉 erzählen:
4 ‚Ihr〈f〉 habt gesehen,
was ich an (in)〈g〉 Ägypten getan habe
und [dass] ich euch auf Flügeln des Adlers (Gänsegeiers?)〈h〉 getragen habe
und euch zu mir gebracht habe.
5 (Und nun: Wenn=) Wenn ihr daher〈f〉 {hörend} auf meine Stimme hören werdet (wollt)
und (meinen Bund bewahren=) den Vertrag (Bund)〈i〉 mit mir halten werdet (wollt),
sollt (werdet)〈j〉 ihr mir (mein) Vasall (Erwerb)〈k〉 sein
unter den ganzen Völkern:(;)
Obwohl mir die ganze Erde gehört, (denn mir gehört die ganze Erde.; Mir gehört zwar die ganze Erde, aber)
6 Sollt (werdet) ihr〈f〉 mir ein Königreich (Königtum) von Priestern sein〈l〉
und eine heilige (asketische, und meine)〈m〉 Nation!‘〈e〉 –
Dies sind die Worte, die du sprechen sollst zu den (Söhnen=) Kindern Israels!“
7 So ging Mose hin, rief die (Ältesten=) Familienoberhäupter des Volks〈n〉 [zusammen] und legte (ihren Gesichtern=) ihnen all diese Worte vor, wie ihm JHWH aufgetragen hatte.
8 Da antwortete das ganze Volk gemeinsam {und sagte}: „Alles, was JHWH gesprochen hat,〈o〉 wollen (werden) wir tun!“
Da überbrachte Mose JHWH die Worte des Volks.(:)〈p〉
9[ [ {Und} JHWH sagte zu Mose: „{Siehe,} Ich komme zu dir in dichtem Gewölk, damit das Volk hört, [wie] ich mit dir spreche und auf ewig auch an dich glaubt (dir vertraut)!“
Da erzählte Mose JHWH [wie gesagt] die Worte des Volks, ] ]〈q〉
10 {und} JHWH sagte zu Mose: „Geh zum Volk! Heilige sie heute und morgen!〈r〉 Sie sollen ihre Kleider waschen!
11 Und sie sollen sich vorbereiten für den dritten Tag, denn am dritten Tag wird JHWH〈s〉 vor den Augen des Volks auf den Berg Sinai hinabsteigen!〈t〉
12 Du sollst das Volk (den Berg) ringsum abgrenzen〈u〉 mit den Worten: ‚Hütet euch, hinaufzusteigen〈v〉 auf den Berg und [auch nur] seinen Rand zu berühren! Jeder, der den Berg anfasst, (muss sterbend sterben=) ist des Todes!〈w〉
13 Keine Hand darf ihn berühren, sonst soll er (sondern er soll)〈x〉 (steinigend gesteinigt=) gesteinigt und (erschießend erschossen / herabwerfend herabgeworfen=) erschossen werden,〈y〉 ob Vieh, ob Mensch;〈z〉 er darf (wird) nicht (leben=) am Leben bleiben!
Wenn (der Widder zieht=) der Klang des Widderhorns sich dehnt (herbeiruft, verhallt?, ?),〈aa〉 sollen (dürfen, werden) diese hinaufsteigen auf den Berg.“
14 Also stieg Mose vom Berg hinab zum Volk, heiligte das Volk, und sie wuschen ihre Kleider.
15 Und er sagte zum Volk: „Bereitet euch vor für den dritten der Tage! Naht euch keiner Frau!“〈ab〉
16 {Und es geschah} Am dritten Tag,〈ac〉 als es Morgen wurde, war [da] Tosen (Lärm, Klang) und Blitze und schweres Gewölk über dem Berg, und lautes, lautes Schofar-Getöse (Klang).〈ad〉 ℘ ℘ ℘
Da bebte das ganze Volk, das im Lager [war].
17 Aber (und) Mose brachte das Volk Gott entgegen aus dem Lager. Sie stellten sich unterhalb des Bergs (am Fuß des Bergs, auf den unteren Ausläufern des Bergs?) auf.
18 Und der Berg Sinai rauchte vollständig vom Hinabstieg〈ae〉 Gottes auf ihn im (als) Feuer.〈af〉 Sein Rauch stieg empor wie Rauch〈ag〉 aus dem Schmelzofen und der ganze Berg (das ganze Volk)〈ah〉 bebte sehr.〈ai〉
19 [ [{Und es geschah}} Als das Getöse (der Klang) des Schofar sehr stark anstieg, redete Mose, und Gott antwortete ihm unter (mit) Getöse (Klang, einer Stimme)〈aj〉:(.)〈ak〉 20 JHWH stieg [wie gesagt] hinab auf den Berg Sinai, [nämlich] zum (?) Gipfel des Bergs. Dann rief JHWH Mose zum Gipfel des Bergs,〈al〉 Mose stieg hinauf 21 und JHWH sagte zu Mose: „Steig hinab; warne das Volk, damit sie nicht (; nicht, dass sie) durchbrechen〈am〉 zu JHWH, um zu gucken, und so eine Menge von ihnen fällt! 22 Selbst (auch) Priester (die Priester),〈an〉 die sich JHWH [für gewöhnlich] nahen,〈ao〉 müssten (müssen, sollen) sich heiligen, damit nicht JHWH bei ihnen einbricht (nicht, dass JHWH bei ihnen einbricht)!“〈ap〉 23 Mose (sagte=) erwiderte JHWH: „Das Volk kann [doch gar] nicht hinaufsteigen auf den Berg Sinai. (Denn=) Schließlich hast du uns gewarnt {wie folgt}: ‚Grenze den Berg ab und heilige ihn!‘“〈aq〉 24 Aber (und) JHWH sagte zu ihm: „Geh! Steig hinab! Und dann steig wieder hinauf, und Aaron (und dein Bruder Aaron)〈ar〉 mit dir! Aber Priester (die Priester)〈an〉 und Volk (das Volk) dürfen nicht durchbrechen, um hinaufzusteigen zu JHWH, damit er nicht (; nicht, dass er) einbricht bei ihnen!“ 25 Da stieg Mose hinab (hinab vom Berg)〈as〉 zum Volk und sagte zu ihm: (gebot ihm.)〈at〉 ] ]
Anmerkungen
Exodus 19 ist ein Spitzentext des Ersten Testaments. Hier beginnt der längste zusammenhängende Abschnitt der Bibel: Die sog. „Sinai-Perikope“, die erst in Num 10,11 enden und dann noch einmal länger im Buch Dtn rekapituliert werden wird und die sich hauptsächlich aus mehreren Gesetzessammlungen und Aufzählungen zusammensetzt. Ex 19-24, die „vordere Sinai-Perikipe“, ist davon die Einleitung, die mit der Erzählung in Kap. 19 v.a. den Rahmen dafür bereitet, dass Gott im Folgenden Gebot auf Gebot erlassen kann.
Ex 19 ist außerdem ein Lieblingskapitel von Redaktionskritikern (=> Redaktionskritik). Aus guten Gründen: Dass die Israeliten in Vv. 1-2 doppelt den Sinai erreichen und in Num 10,12; 10,33.35 doppelt von dort wieder aufbrechen, zeigt deutlich, dass Ex 19 ein zusammengesetzter Text ist, an dem mindestens zwei Autoren(kreise) geschrieben haben. Die konkretere Entstehungsgeschichte des Texts ist außerordentlich umstritten; weil es hier aber auch für das rechte Verständnis der einzelnen Abschnitte so wichtig ist (Crüsemann 2015, S. 40: „Wenn irgendwo, ist hier Literarkritik nötig und unvermeidlich“), sollen hier wenigstens die gröbsten Aspekte dieser Entstehungsgeschichte nachvollzogen werden. Im letzten Absatz ist das Wichtigste der folgenden Diskussion zusammengefasst; der weniger interessierte Leser kann ohne Verlust direkt zu diesem Absatz springen.
Es ist erstens klar, dass Ex 19 überwiegend keine alten Traditionen verarbeitet hat, sondern dass das Gros des Kapitels spät entstanden ist: Davon, dass am Sinai Gebote erlassen worden sind, weiß erst das junge Buch Nehemia (Neh 9,13f.; vgl. z.B. Schmid 2016). Ist in alten Texten wie Dtn 33,2; Ri 5,5; Ps 68,9.18 vom Sinai die Rede, ist es ein Berg unter vielen (Schmid 1976, S. 154f.: „Sinaischweigen“ der biblischen Texte). Im Ersten Testament gibt es eine Reihe von Stellen, die die wichtigsten Ereignisse der israelitischen Heilsgeschichte zusammenfassen (bes. Dtn 6,20-24; 26,5-9; Jos 24,2-13; Ps 78; 105; 106; 135; 136); in keinem davon ist von Geschehnissen am Sinai die Rede (vgl. z.B. Booij 1984, S. 2f.; Crüsemann 2015, S. 44). Wenn in späteren Texten vom Bundesschluss oder der Gesetzesgabe die Rede ist, geschah das nicht am Sinai, sondern entweder „beim Auszug aus Ägypten“ oder „in der Wüste“ (Ri 2,1f.; Ps 81,7-12; Jer 7,22-25; 11,3-7; 31,32; 34,13f.; Ez 20,5.10f.; vgl. Crüsemann 2015, S. 52ff.). Die Erscheinung Gottes am Ende von Ex 19 ist laut unserem Kapitel die größte und eindrücklichste der ganzen Bibel; Verfasser anderer Theophanien scheinen sie aber nicht zu kennen (Jeremias 1965, S. 109f.). Selbst Num 33, in dem noch einmal die einzelnen Stationen der Reise Israels nachvollzogen werden, weiß nichts von einem Berg in der Wüste Sinai (Roskop 2011, S. 183f.). Man geht daher in der neueren Redaktionskritik überwiegend entweder davon aus, dass in den ältesten Schriftquellen des Pentateuch die Moseerzählung entweder mit dem Durchzug durchs Meer endete oder dass danach allenfalls „Itinerare“ (also Weg-Angaben wie hier „Sie zogen von Refidim fort, kamen in die Wüste Sinai und lagerten in der Wüste.“ in V. 2) folgten. Alles andere im Kapitel wären dann jüngere Fortschreibungen dieses Itinerars.
Recht große Einigkeit besteht zweitens darin, dass wegen der Terminologie V. 1 priesterschriftlich ist und md. Vv. 4-8 deuteronomistisch (zum Alternativvorschlag, die Vv. seien noch jünger, s. zu V. 3). Diese Verse weisen voraus auf Ex 24,4-8; beide Abschnitte rahmen damit die vordere Sinaiperikope als „Fachwerk, in das das Bundesbuch [Ex 20,22-23,33] eingehängt ist“ (Otto 1996b, S. 78) – auch das dürfte noch mehrheitsfähig sein und wird gleich wichtig werden für die Interpretation von V. 6.
Drittens: V. 9 ist ein nachdeuteronomistischer Nachtrag, wie die Wiederaufnahme des Vers-Endes von V. 8 in V. 9 deutlich zeigt (so fast alle Redaktionskritiker). Zu diesem Vers gehört wahrscheinlich auch die Vv. 19-20a, an deren Ende ebenfalls V. 18 wiederaufgenommen wird und die einlösen, was V. 9 verspricht (z.B. Oswald 1998, S. 42f.72; Albertz 2015; Germany 2017, S. 116; Stoppel 2018, S. 310). Die Erwähnung von Aaron in V. 24 macht außerdem sehr wahrscheinlich, dass Vv. 24f. (post)priesterschriftlich sind, falls nicht nur die Rede von Aaron Nachtrag in diesen Vers ist.
Bis hierhin ist die Entstehungsgeschichte des Kapitels recht klar; die folgenden Verse aber sind umstritten. Es ist gewiss, dass im deuteronomistischen Text nach V. 8 noch etwas folgen muss, bevor ab Kap. 20 Gottes Gebote erlassen werden können. Dtn 5,4 setzt mindestens V. 18 voraus, der danach nicht (post)priesterschriftlich sein wird. Dtn 5,5 setzt außerdem md. die Vv. Ex 20,18f voraus, die wiederum voraussetzen, dass sich Mose gerade beim Volk befindet – anders, als die Vv. 20-23 erzählen. Damit sind die Vv. 20-25 insgesamt recht wahrscheinlich nachdeuteronomistisch und V. 17 dürfte (vor)deuteronomistisch sein.
Damit bleiben Vv. 10-16, die am schwierigsten zu beurteilen sind:
Rechnet man Vv. 9a.19 zur selben Text-Schicht wie Vv. 20-25, könnte man insgesamt eine (vor)deuteronomistische und eine (nach)priesterschriftliche Sinaierzählung basteln, etwa:
JE + [D]: 2a.3b.[4-8.]10.13b-14.17-18: Die Israeliten kommen aus Refidim in die Wüste Sinai und lagern dort (2a). Mose wird auf den Berg gerufen (3b) [und bekommt dort den Vertrags-Antrag (4-6), den das Volk annimmt (7-8a), was Mose Gott zurückmeldet (8b)]. Gott befiehlt daraufhin, dass Mose das Volk heiligen und dieses sich die Kleider waschen soll (10), denn zum Signal des Widderhorns (statt des „Schofar“) soll das ganze Volk den Berg besteigen (13b). Also heiligt Mose das Volk und dieses wäscht die Kleider (14, s. 10), dann führt er es zum Fuß des Berges (17), der sogleich zu brennen und zu rauchen beginnt (18). Als das Volk Rauch und Flammen sieht, gerät es in Panik und will den Berg lieber nicht besteigen... (20,18ff).
P (?) + [post-P]: Vv. 1.2b-3a.[9a.]11-13a.15-16.[19.]20-25: Die Israeliten kommen in der Wüste an (1), lagern sich am Berg (2b), Mose steigt hinauf (3a). Gott spricht, [dass er im Wolkendunkel kommen wolle, damit das Volk an Mose glaubt (9a);] das Volk soll sich für die Ankunft Gottes am dritten Tag bereiten (11). Mose soll außerdem Berg und Volk abgrenzen (12a), denn auf das Berühren des Berges steht die Todesstrafe (12b-13a). Mose befiehlt also, sich für den dritten Tag zu bereiten (15, s. 11), und wirklich kommt Gott am dritten Tag in dunklem Gewölk und zu Schofarklang (16, s. 11). [Während Mose und Gott redet, wird dieser Schofarklang sogar immer lauter (19, s. 16)]. Bevor die Rede auf den Inhalt des Gesprächs kommt, muss Mose allerdings noch einmal auf den Berg, um dort den Auftrag zu bekommen, dem Volk noch einmal einzuschärfen, den Berg nicht zu besteigen (20-25, s. 12-13a).
Aber nichts zwingt dazu, Vv. 10-16 auf zwei Quellen aufzuteilen, und neuere Redaktionskritiker glauben überwiegend, im priesterschriftlichen Geschichts-Entwurf sei auf V. 1 direkt Ex 24,15b oder ursprünglich Ex 25,1 gefolgt (24,15b z.B. Elliger 1952, S 121f.; Weimar 2008, S. 293; Sommer 2015, S. 53; 25,1 z.B. Pola 1995; Schmid 2010; zur Diskussion vgl. neuerdings Hutzli 2023, S. 284f.328). Teile von „P“ J zuzuweisen geht kaum an, weil Ex 19 so gar keinen Nachhall in frühen Texten gefunden hat. Geht man also von nur einer Sinaierzählung aus, könnten zwar Vv. 11-13a gut Ergänzung aus der selben Feder sein wie Vv. 9.19-25, ändern aber wenig am Sinn des Textes, weshalb man sie besser nicht ausscheidet. Als Entstehungsgeschichte kann man dann annehmen: Die ursprüngliche (spätvorexilische?) Sinaierzählung erzählte davon, wie die Israeliten zum Berg in der Wüste Sinai gelangten, wo dem ganzen Volk Gott erschien, um sein Gesetz in Ex 20,22-23,33 zu erlassen. Doch die Israeliten fürchteten sich vor dieser Erscheinung, so dass Mose allein Empfänger dieses Gesetzes sein musste (Ex 20,18-21). Daher schrieb er es auf (24,4a) und besiegelte es in 4b mit einer Zeichenhandlung.
Ein deuteronomistischer Autor nahm die Gelegenheit wahr, rahmte diese Erzählung mit 19,4-8 und Ex 24,5-11 und schrieb so die deuteronomistische Bundestheologie und die frühdeuteronomistische (?) Kulttheologie in die Perikope ein (zur Kulttheologie s. z.B. die Kap. Dtn 12; 27, die noch ganz selbstverständlich voraussetzen, dass das Volk selbst Opfer an Kultstätten darbringt. Vgl. zu dieser Behauptung der dtr. Schule v.a. auch die priesterschriftliche Polemik dagegen in Num 16; dazu z.B. Blum 1990, S. 263-271).
Ein postpriesterschriftlicher Autor dagegen war nicht einverstanden mit der Vorstellung, dass Gott zu ganz Israel gesprochen und ganz Israel sogar Gott gesehen haben solle, darum fügte er erstens die Ergänzung 19,9a ein, um direkt vor dem Vers von der Vorbereitung des Volks klarzumachen, dass die Gotteserscheinung nur Mose allein gelten wird, vielleicht in Vv. 11-13a direkt vor der Rede davon, dass ganz Israel den Berg hinaufsteigen soll, stattdessen den ergänzenden Abschnitt, nach dem im Gegenteil der Berg für das Volk tabu war, in V. 19 einen Vers, laut dem der den Aufstieg signalisierende Schofarklang gar nicht aufgehört und Mose währenddessen mit Gott geredet habe, in Vv. 20-25 noch einmal eine doppelte Bekräftigung, dass wirklich der Berg für Israel tabu war, weil nur Mose und Aaron ihn besteigen durften, und in 24,1f. schließlich noch einen kurzen Abschnitt, der gewiss Vv. 3-11 ersetzen sollte (vgl. mit Vv. 9-11) und nach dem die 70 Ältesten gerade nicht in die Nähe von Gott gekommen seien und das Volk nicht einmal auf den Berg gelangt sei.
Wichtig ist hiervon für das folgende v.a., dass Vv. 4-8 deuteronomistisch sind und sich auf 24,4-8 beziehen und dass md. Vv. 9.19-25 ursprünglich sehr wahrscheinlich nicht zu Kap. 19 gehörten, sondern Korrekturen theologischer Gegner waren. Im Folgenden wird dennoch versucht, den Endtext insgesamt sinnvoll auszulegen.
Zum Inhalt: Nachdem Gott die Israeliten aus Ägypten befreit und durch das Meer geführt hat, bringt er sie nun an den Berg Sinai (Vv. 1-2), um ihnen durch Mose vorzuschlagen (V. 3), nun auch offiziell seine „Vasallen“ zu werden: Ein Königreich, das insgesamt als Priester für den König JHWH zu dienen hat, eine Nation, die von groß bis klein ihm zugehörig sein soll (Vv. 4-6).
Traditionell wird dies meist übersetzt als „Wenn ihr den Bund mit mir halten wollt, sollt ihr unter allen Völkern mein Schatz sein: Ein Königreich/Königtum von Priestern, eine heilige Nation.“ Man kann sich heute daher nur schwer von der Vorstellung freimachen, hier werde etwas unendlich Positives und Israel über alle Völker hinaus Würdigendes vorgeschlagen: „Bund“ klingt nach Augenhöhe, „Schatz“ und „Königreich“ sind sehr positiv aufgeladene Begriffe, und „Priester“ und „Heiligkeit“ werden doch wohl in der Bibel auch etwas Gutes sein. Liest man die Bibel außerdem von vorne nach hinten, ist man im Buch Genesis soeben mit dem „Noah-Bund“ und dem „Abrahams-Bund“ konfrontiert worden und damit mit einem sehr anderen „Bundes-Konzept“, in dem vor allem lag, dass Gott sich selbst dazu verpflichtete, ausgewählte und besonders würdige Personen zu belohnen. Entsprechendes erwartet man dann auch hier.
Damit ist der Antrag aber aller Wahrscheinlichkeit nach falsch verstanden. Was Mose den Israeliten hier antragen soll, ist zunächst ein Vertrag: Das Wort stammt aus dem Bereich der Politik und beschreibt die Vereinbarung zwischen ungleich Gestellten wie insbesondere zwischen Großkönig und den von ihm unterworfenen regionalen Herrschern, die ihm mit diesem Vertrag vasallenpflichtig wurden. Man ist sich heute in der Forschung auch recht einig, dass sich die israelitische „Bundes-Theologie“ in den Büchern Ex-Dtn, die auch im Hintergrund dieses Abschnitts steht und sich etwa vom Bund mit Noah sehr unterscheidet, aus solchen antiken Vasallenverträgen heraus entwickelt hat (vgl. zur Stelle schön knapp z.B. Assmann 2015b, S. 19). Was in Vv. 3-8 genauer geschieht, entspricht auch insgesamt dem antiken Vertragswesen: In Kapitel 19 wird nicht schon der Vertrag geschlossen, sondern er wird nur grob umrissen angetragen, ohne schon Details zu klären; willigt der Vertragspartner (=Israel) ein, werden danach Nägel mit Köpfen gemacht wie hier in den folgenden Kapiteln mit dem Erlass der Zehn Gebote und des Bundesbuchs als den konkreteren Vertragsinhalten (vgl. gut z.B. Polak 2004), und erst danach wird in Ex 24,1-11 besagter Vertrag ratifiziert.
Mit diesem Vertrag nun wird Israel nicht zum „Kronschatz“ Gottes, sondern entweder sein Eigentum oder sein Vasall, grosso modo also zur „Kolonie Gottes“ (s. zum Wort in V. 5), über die der Kolonialherr JHWH als König herrscht. Da die Israeliten damit Kolonialbürger eines Gottes werden, sind sie fortan „Priester“ (V. 6). Dieses Wort ist heute positiver konnotiert als zumindest stellenweise in der Bibel: Gerade die deuteronomistische Schule setzt die Situation voraus, dass Priester Leviten sind und als solche auf einer Stufe mit den armseligen Migranten, Waisen und Witwen stehen (Dtn 14,29; 16,11.14; 26,12f.). Primär bedeutet „Priester“ und „heilig“ (s. gleich) nach der Rede von Israel als Gottes „Vasallen-Nation“ wohl nicht mehr als: „Gottes-Diener“ (so Ramban; ähnlich Rabbenu Bahja: „Der Sinn ist: Ihr sollt mein Besitz sein“); Vv. 5-6 müssen insgesamt nicht mehr bedeuten als das oben zitierte „wenn du diesen Vertrag einhältst, werde ich dich als Untertan annehmen“ – nur eben ins Religiöse gewendet. Aber s.o. zu weiteren möglichen Bedeutungen, die mindestens mitschwingen könnten. Als solche Priester sollen sie für Gott „heilig“ sein. Wieder ist dies nichts ausschließlich Positives; ein „Heiliger“ ist in der Vorstellung des Deuteronomiums keine Person mit Vorbildcharakter wie im heutigen Sprachgebrauch, sondern „heilig“ heißt zunächst nur, Gottes Volk zu sein und dafür aber auch eine ganze Reihe von Ge- und Verboten einhalten zu müssen – Israel wird hier also auch zu Disziplin und Verzicht berufen. Bedingung dafür, dass Israel Gottes Kolonie werden darf, ihm als Priester dienen darf und seine Gebote beachten darf, ist dann auch noch, dass die Israeliten Vertragsbedingungen einhalten werden, die ihnen noch gar nicht bekannt sind und als die sich im Folgenden eine ganze Kanonade von Verordnungen entpuppen werden, und dass sie grundsätzlich „auf Gottes Stimme hören“ werden. Man könnte geradezu paraphrasieren: „Ich habe euch ja nun geholfen (und, by the way, ihr habt ja auch gesehen, wie hart ich strafen kann. Nur so als Hinweis). Nun fordere ich daher von euch, dass ihr mir gehorcht. Wenn ihr das tut, dürft ihr meine Knechte sein“. Von einer Gegenleistung, die Israel für diese Knechtung zu erwarten hat, ist dagegen gar nicht die Rede.
Natürlich ist die Wahl des „erwählten Volkes“ an sich sehr wohl eine unendliche Würdigung; das Dtn wird gar nicht müde, das zu betonen. Und natürlich hat Israel für seine Vertragstreue an sich sehr wohl positive Gegenleistungen Gottes zu erwarten (s. z.B. Dtn 7,9f.; 26,19). Nur – gerade hier wird anders als im Dtn beides mit keinem Wort erwähnt. Es überrascht daher sehr, dass die nörgelnden und ungehorsamen Israeliten (s. Ex 14,11f.; 15,24; 16,2f..25-29; 17,2-7) in Vv. 7-8 so spontan und mit einer Stimme diesen unattraktiven Vertrag eingehen wollen, ohne auch nur seinen Inhalt zu kennen. Wenig überraschend kommt es dagegen, dass im Kapitel Ex 32, das sich ursprünglich direkt an Ex 24 angeschlossen hat, just in dem Moment, da Mose den Vertrag verschriftlicht, die Israeliten ihn bereits das erste Mal brechen, indem sie das goldene Kalb gießen und zu diesem beten. Gott erlässt daraufhin für einen neuen Vertrag in Ex 34 andere 10 Gebote und lenkt dann die kultischen Bedürfnisse des Volks in geordnete Bahnen, indem er in Ex 35-39 einen portablen Tempel errichten und in Ex 40 Aaron und seine Nachkommen zu Priestern darin bestellen lässt. Im Talmud haben Rabbi Simai (2. Jhd.) und Rabbi Chama (3. Jhd.) diese enorme Ermächtigung des Volks zu Priestern in unserem Kapitel und Ex 24 und die darauf folgende „Entmächtigung“ in Ex 35-40 so ausfabuliert, dass auf das „Ja“ der Israeliten in V. 8 tausende Engel ihnen sofort Kronen aufgesetzt und Ornate angetan hätten; nachdem sie das goldene Kalb gegossen hatten, hätten sie sie ihnen beides aber wieder genommen (b.Schab 88a). Aber das liegt noch in der Ferne; hier haben die Israeliten zunächst grundsätzlich eingewilligt, mit Gott einen Vasallenvertrag zu schließen.
Zuvor präzisiert Gott in V. 9 noch einen weiteren Zweck seiner Herabkunft: Nicht nur ein Vertrag zwischen Gott und Israel soll geschlossen werden, sondern das Folgende dient außerdem wie schon die Beauftragung des Mose laut Ex 4,31, das Meerwunder laut Ex 14,31 und später ähnlich auch die Transfiguration des Mose laut Ex 34,11 dazu, dass das mit Mose hadernde und so wenig auf ihn vertrauende Volk endlich auf ihn vertraut.
Damit sind dann aber die Präliminarien erledigt; Vv. 10-15 schildern daher, wie Mose das Volk vorbereiten soll, damit es Gott nun selbst zum Vertragsabschluss begegnen kann: Auf seine „Heiligkeit“ soll das Volk sich vorbereiten, indem es sich selbst durch Waschungen und Askese „heiligt“ (Vv. 10.14f.). Für diese Vorbereitung wird dem Volk eine Zeit von drei Tagen eingeräumt (V. 11. Frühjüdische Schriften haben daher aus diesem Vers abgeleitet, dass eine Reihe von „Unreinheiten“ maximal drei Tage währen können). Für diese Zeit der Vorbereitung aber ist der Berg tabu; der Zutritt zu ihm wird auf Todesstrafe verboten (Vv. 12-13a). Erst, wenn als Signal eine Widderhorn-Fanfare ertönt ist, darf das Volk den Berg besteigen (13b).
Und wirklich ist es dann am dritten Tag so weit: Gottes Herabkunft kündigt sich wie noch häufiger in der Bibel an durch den Aufruhr der Natur: Tosender Donner (?) erklingt, Blitze zucken über dem Gipfel des Sinai, schweres Gewölk umhüllt den ganzen Berg, und wie später beim Tempelgottesdienst künden hier laute Schofar-Fanfaren die Ankunft Gottes an (V. 16). Schon hier fürchtet sich das Volk; Mose aber führt sie zum Bergesfuß, um das Ende der Signalfanfare abzuwarten (V. 17). In V. 18 ist dann Gott auf dem Sinai angekommen: nun brennt nicht mehr der Himmel, sondern der Berggipfel brennt; nun ist nicht mehr der Himmel umwölkt, sondern der Berg verraucht; nun grollt nicht mehr der Himmel, sondern der Berg; und das Schofar-Getöse, das schon von Morgen an erschallte, nimmt ohrenbetäubende Ausmaße an (19a): Noch ist die Zeit des Aufstiegs nicht gekommen; zunächst muss der Vertragsinhalt verlesen werden.
V. 19b-25 berichten daher, wie Gott Mose ein weiteres Mal einschärft, das Volk vom Berg fernzuhalten: Noch hat Israels Vertrag mit Gott keine Gültigkeit; noch ist es weder „heilige Nation“ noch „Königreich von Priestern“ – aber selbst Priester müssten sich erst noch heiligen, bevor sie es wagen dürften, sich dem Berg zu nähern (Vv. 21f.24). Mose ist leicht verwirrt: Das ist doch fast exakt das, was er dem Volk im Auftrag Gottes schon in Vv. 12f. klargemacht hat (V. 23)? Aber die Sache ist zu wichtig. Und so steigt Mose vom Berg herab und übermittelt dem Volk Gottes Gebot. Dann endlich ist es so weit; in Ex 20,1 macht Gott sich daher an die Verlesung des ersten Teils der Vertragsbedingungen.
a | Zum dritten Neumond..., an diesem Tag - Etwas unklare Zeitangabe. Wahrscheinlich ist sie mit der Marotte eines oder mehrerer Autoren der Priesterschrift zu erklären, nicht nur Großabschnitte mit Zeitangabe statt mit Verb zu einzuleiten (vgl. z.B. Booij 1984, S. 17), sondern auch noch diverse Großereignisse der Heilsgeschichte Israels überflüssig mit „an diesem Tag“ hervorzuheben (Gen 7,11: Sintflut; Ex 12,14.17.41: Pesach; Lev 8,34: Priesterweihe; 16,30: Jom Kippur; gut z.B. Ramban; Propp 2006; Leder 2010, S. 296), was hier zu der redundanten Formulierung „zum dritten Neumond, ... an diesem Tag“ führt. In jedem Fall ist auch nach dieser Zeitangabe klar, dass mit dem Auszug aus Ägypten eine neue Ära angebrochen ist, die eine neue Zeitrechnung erforderlich macht: „[Der Vers] lehrt, dass man die Monate/Neumonde vom Auszug der Israeliten an zählte“ (Mechilta, Baḥodeš 1; s. Ex 12,2: „Dieser Monat [des Auszugs aus Ägypten] soll euch der Erste der Monate [im Jahr] sein!“). Genauer: Die Zeitangabe wurde auch deshalb schon seit frühester Zeit stark diskutiert, weil im Judentum u.a. an dieser Zeitangabe das Datum des Wochenfests festgemacht wurde (s. z.B. die Diskussion im Talmud, j.Meg iii 6). ḥodš könnte entweder der „Monat“ oder der „Neumond“ sein, was zunächst auf Ähnliches hinausliefe, da der Kalender des Alten Israel ein Mondkalender und der Neumond daher der Beginn eines neuen Monats war. Unklar ist dann aber das folgende an diesem / am selben / am ebensovielten Tag: (1) Muss man ḥodš i.S.v. „Neumond“ nehmen, so dass mit dem Wort von einem bestimmten Tag die Rede wäre, und dieser Tag würde hier unnötigerweise noch einmal hervorgehoben? „Am 1.3. Anno Exodi, an exakt diesem Tag“ (so z.B. Chizkuni; Kass 2021; R-S: „Am dritten Neumond ..., genau auf den Tag“)? Diese Deutung wird im Judentum präferiert (z.B. bei Jacob 1997; Cassuto 1967; Sarna 1991), da sich für das Wochenfest das Datum 50 Tage nach Pesach durchgesetzt hat (Lev 23,15-17). Der 1.3. wäre dann 45 Tage nach dem 15.1., und die Geschehnisse in Kap. 19 kann man mit etwas gutem Willen auf fünf Tage verteilen, so dass die 10 Gebote in Kap. 20 exakt am Datum des Wochenfests offenbart worden wären, an dem Ex 19-20 auch nach der jüdischen Leseordnung jeweils zu lesen ist. (2) Muss man ḥodš i.S.v. „Monat“ nehmen... (2a) ... und „an diesem Tag“ heißt ohne Parallelen „am Ersten diesen Monats“, was auf das selbe Datum wie (1) hinausliefe (so TgJ; Sforno; Utzschneider 2017, S. 12; HfA: „Genau am 1. Tag des 3. Monats“)? (2b) ... und „am selben Tag“ heißt „am ebensovielten Tag wie der Auszug aus Ägypten“, also am „15.3.“ (s. Ex 12,6.18; so z.B. Houtman 1996; Dohmen 2004; BB: „Genau drei Monate nach dem Auszug aus Ägypten“)? Dann wären die Israeliten am 15.1. aus Ägypten ausgezogen, am 15.2. zur Wüste Sin gekommen (Ex 16,1) und am 15.3. zur Wüste Sinai. (2c) ... und „am selben Tag“ bezöge sich auf das dritte in „im dritten Monat“, also „am 3.3.“ (so Tirinus, Menochio, Cornelius a Lapide; schon Talmud)? (2d) ... und „an diesem Tag“ funktioniert ähnlich wie das „das ist heute“ in der Gründonnerstagsliturgie und soll zum Ausdruck bringen, dass die Geschehnisse am Sinai nie passé, sondern immer aktuell sind (ganz fernliegend; so aber der Midrasch Tanchuma Buber; Raschi; Jacob 1997 und Markl 2007, S. 61f. gleichzeitig mit (1); auch EÜ 80, HER05: „Im dritten Monat ... - am heutigen Tag - ...“)? (Zurück zu v.1) |
b | Syr: in die Wüste Sin; alle anderen Versionen: Sinai. Nach der Logik von Ex ist Syr natürlich Unsinn; in der Wüste Sin waren die Israeliten schon vor vielen Tagen (s. Ex 16,1). Doch die Variante in Syr ist vielsagend: Wie der Name „Sinai“ zu erklären ist und warum für den „Berg Sinai“ an manchen Stellen „Berg Horeb“ steht, ist umstritten; eine beliebte Erklärung ist aber, dass Sin-ai soviel heißt wie „der [Berg] in der Wüste Sin“ (vgl. z.B. Clifford 1972, S. 109; zur Lage der Wüste s. WiBiLex) und dass man dies in manchen Quellen durch Horeb („Wüstenei, Wildnis“) ersetzt hätte, weil auch der syrische Gott des Mondes „Sin“ hieß, so dass der biblische Gott den Israelten sonst „auf dem [Berg] des [Gottes] Sin“ begegnet wäre (z.B. Wyatt 2001, S. 93). Hat Syr dissimiliert, indem sie zunächst mit „Wüste Sin“ grob das Gebiet des Lagerns umrissen und dann mit „Wüste Sinai“ genauer den Teil der Wüste um den „Berg Sinai“ angegeben hat? Dann würde das die Herleitung des Namens des Berges von der Wüste Sin und seine Lokalisierung in derselben stützen – denn wo der „Berg Sinai / Horeb“ liegt, ist nicht einmal ungefähr klar; zu 14 (!) verschiedenen in der Literatur diskutierten Orten s. OpenBible. (Zurück zu v.1) |
c | Vv. 1-2 kann man zur Not so lesen, dass V. 1 eine Kurzfassung der Reise mit Betonung des Zielorts gibt und V. 2 dann noch einmal im Einzelnen auseinanderlegt, woher genau die Israeliten kamen und wo genau sie ihr Lager aufschlugen. Da in Num 10,12 und Num 10,33.35; 12,16 aber auch doppelt von der Wüste Sinai / dem Berg JHWHs aufgebrochen und nach Paran gewandert wird, ist klar, dass Vv. 1.2a aus zwei unterschiedlichen Quellen stammen (vgl. Davies 1983, S. 3f.; => Redaktionskritik). tFN: Dass V. 1 aus P stammt, ist offensichtlich (s.o.); 2a (dazu vgl. Ex 12,37a; 13,20; 16,1; 17,1 und z.B. Hutzli 2023, S. 267) gehört demnach zu einer älteren Quelle als P – wahrscheinlich zu J, s. die Anmerkungen. (Zurück zu v.2) |
d | Nach jüd. Auslegung am zweiten Tag, s. Mechilta; Raschi. (Zurück zu v.3) |
e | Familie Jakobs ... Söhne Israels - w. „Haus Jakobs“; eine wörtl. Übersetzung verschleiert aber, dass „Haus Jakobs“ eine soziale Größe ist: „Haus“ ist eine häufige Wechselbezeichnung für das „Haus eines Vaters“, also für die Sozialstruktur der Großfamilie, bei der um den Wohnsitz eines Stammvaters herum die Wohnsitze seiner Nachkommen angeordnet sind. Dem entspricht in der nächsten Zeile die Rede von den „Kindern Israels“. Israel ist dabei bekanntlich Zweitname des Patriarchen Jakobs, weshalb auch in 3c Jakob als Wechselbegriff für „Israel“ verwendet werden kann. Gott wendet sich an Israel also zu Beginn dieses kurzen Gedichts mit zwei Familien-Begriffen (ähnlich gut Kass 2021, S. 290: „vor-nationale oder vor-staatliche Bezeichnungen“), was dadurch noch verstärkt wird, dass das Volk näher bestimmt wird als die Nachkommenschaft ihres gemeinsamen Vorfahren Jakob/Israel. In V. 6 werden am Ende des Gedichts nach der Rede vom „Vertrag“ dagegen demonstrativ zwei politische Begriffe verwendet: heilige Nation statt dem üblichen „heiliges Volk“, weil ´am („Volk“) ursprünglich ebenfalls ein Begriff aus dem Umfeld der Familie ist (gut z.B. Schüssler Fiorenza 1972, S. 136; Hausmann 1999, S. 113), und Königreich (s. dazu dort): Hier wird ein Staatsvertrag geschlossen. tFN: Weder aus dem im AT singulären Parallelismus „Haus Jakobs ... / Söhne Israels“ noch aus den Ausdrücken „heilige Nation“ statt „heiliges Volk“ (Dtn 7,6; 14,2.21; 26,19; 28,9; Weish 17,2) und „Vasall“ statt „Vasallen-Volk“ (Dtn 7,6; 14,2; 26,18) darf man daher automatisch Rückschlüsse auf die Entstehungszeit von Vv. 3-8 ziehen (so z.B. Perlitt 1969, S. 169-174; Ska 2009 [=1999], S. 144.146; Gertz 2000, S. 227; Römer 2009, S. 133; => Redaktionskritik), da sie rhetorisch zu erklären sind. Das Adler-Wort in V. 4 ist ein altes Mythem (s. dort) und braucht gar keine biblische Quelle; wenn außerdem wirklich bei V. 4 und Dtn 32,11 eine Stelle die andere beeinflusst hat, geht die Richtung gewiss von unserem Vers zu Dtn, da die Vorstellung dort komplexer ist. Die Bundestheologie in Vv. 3-8 ist auch klar deuteronom(ist)isch und nicht (nach)priesterschriftlich (richtig Perlitt 1969, S. 171; Aurelius 2003, S. 151f.). Das einzige stärkere Argument für eine nach-deuteronomistische Entstehungszeit könnte also der Ausdruck „Königreich von Priestern“ sein. Dieser muss aber wahrscheinlicher sogar geradezu anti-priesterschriftlich verstanden werden (s.u.; vgl. dazu wie auch zu anderen Argumenten für nachdeuteronomistische Entstehungszeit Aurelius 2003, S. 141-151). Ist das richtig, sind insgesamt die Vv. 3-8 überdeutlich deuteronomistisch (vgl. zu diversen typischen Begriffen und weiteren Parallelen z.B. Baentsch 1903, S. 171; Dozeman 2009; Oswald 2014, S. 181). (Zurück zu v.3 / zu v.6) |
f | Klangspiel: V. 4 beginnt mit `attem („ihr“), V. 5 mit (wa)´attah („und nun, daher“), V. 6 wieder mit (wa)`attem („ihr“); gut beobachtet von Beentjes 2006, S. 8f. Das unterstreicht die Logik der Verse: Ihr wurdet Zeugen davon, was ich tat, darum sollt ihr nun mein Eigentum sein: Die ganze Welt gehört zwar mir, ihr aber, die ihr Zeugen wurdet, sollt mein Königreich und meine Nation werden. (Zurück zu v.4 / zu v.5 / zu v.6) |
g | Textkritik: MT: an Ägypten, d.h. „was ich den Ägyptern angetan habe“, z.B. am Schilfmeer. Viele Handschriften inkl. Tg-Hss. dagegen mit anderer Präp. in Ägypten, was sich nur auf die Plagen bezöge. Zwischen beiden Varianten lässt sich kaum entscheiden; die meisten Vrs. stützen aber MT. (Zurück zu v.4) |
h | Heb. nescher; trad. „Adler“. Spätestens, seit Tristram 1883, S. 172 erklärt hat, gemeint sein müsse der Gänsegeier, weil in Mi 1,16 („Mache dich kahl und schere dich wegen der Kinder deiner Wonne; mach deine Kahlheit größer wie der nescher, denn sie wurden von dir hinweg exiliert!“) von der Kahlköpfigkeit dieses Vogels die Rede sei und weil das Arabische nissr klar den Gänsegeier meine, wird in Lexika (anders als in Kommentaren) immer häufiger stattdessen „Geier“ vorgeschlagen (z.B. Kronholm in ThWAT V, Sp. 680-689; Keel/Küchler/Uehlinger 1984, S. 154-157; Adler (WiBiLex); auführlich auch Schroer 1996 und nach ihr Wüste 2018, S. 160-163; letztlich zeigt Schroer aber nur, dass im Orient übrigens häufig auch Geier abgebildet wurden). Hier daher auch Dohmen 2004: „Dann habe ich euch auf Geiersflügeln getragen.“ (ebenso z.B. Propp 2006; Utzschneider 2017, S. 13. Dagegen z.B. Houtman 1996; Dozeman 2009; Albertz 2015: „Adler“). Plinius berichtet in NatHist X 3, dass von alten Naturkundlern bisweilen z.B. auch der Lämmergeier zur Gattung der „Adler“ gerechnet wurde; wahrscheinlich lassen sich die beiden Vögel terminologisch also nicht so klar scheiden, wie Exegeten dies gerne hätten. Ob daher jeweils besser mit „Adler“ oder „Geier“ zu übersetzen ist, hängt vom jeweiligen Kontext ab (so am sinnvollsten UBS 1980, S. 82). Und der spricht hier und im parallelen Vers Dtn 32,11 sehr stark für „Adler“: Dass Menschen von Adlern getragen worden seien, ist ein verbreitetes Motiv in der Mythologie. Der sumerische König Etana etwa wird im gleichnamigen Epos (24. Jhd. v. Chr.?) von einem Adler zum Himmel getragen (Bild 1). Auf der Goldschale von Hasanlu (10./9. Jhd. v. Chr.?) reitet eine unbekannte Frau auf einem Adler hinauf zum Reich der Götter (Bild 2). Aelian berichtet in NA XII.21 davon, „Gilgamosch“ [sic] sei, als er als Säugling aus dem Fenster geworfen werden sollte, von einem Adler gerettet und zu seiner Ziehmutter getragen worden. Henkelman 2006, S. 823-825 vermutet als direkte Quelle Ktesias von Knidos (5./4. Jhd. v. Chr.), der dies wiederum aus mesopotamischen Quellen geschöpft hätte. Zeus entführt Ganymed in Gestalt eines Adlers zum Olymp, und weil dies als Allegorie für den Transport von Seelen in den Himmel verstanden wurde, mauserten sich (Ganymed und) der Adler zu einem der häufigsten Motive in nabatäischen und palmyrenischen Gräbern (Bild 3). Auf römischen Darstellungen reiten Kaiser:innen v.a. des 2. Jhds. sogar häufig auf Adlern (Bild 4); dies steht für ihre „Apotheose“ oder „Vergöttlichung“ (vgl. z.B. Filipek 2023, S. 17), also eine andere Art der Himmelfahrt. Nach vier dieser fünf Zeugnisse dürfte der Transport auf Adlerflügeln also ein aufgeladenes Bild sein, das den Sinai auf eine Stufe mit dem Himmelreich hebt (gut Graupner 2021, S. 373. Alternativ müsste man den Ausdruck verstehen als Metapher dafür, dass die zurückgelegte Reise schnell und beschwingt wie auf Adlers Flügeln vonstatten ging, was nach den vorangegangenen Kapiteln absurd wäre [so aber z.B. Albertz 2015: „(gesprochen) mit einem kleinen verzeihenden Lächeln“]). Allerdings ist der Sinai nicht der Olymp (zu etwas ähnlichem wird er erst in Ex 24,9f. werden): Gott hat als Adler die Israeliten zu sich gebracht; der Sinai ist olympisch erst durch seine Anwesenheit. In Dtn 32,11 ist dieses Bild mit einem weiteren verbreiteten Volksglauben verquickt: In „Wie ein Adler sein Nest aufstört, über seinen Jungen schwebt, seine Flügel ausbreitet, es [= Israel] aufnimmt, es trägt auf seinen Schwingen“ spielen die letzten drei Verben auf die selbe Vorstellung wie unser Vers an, die ersten beiden dagegen auf den Glauben, Adler scheuchten ihre Jungen aus dem Nest (wonach sie vom Bartgeier großgezogen würden; vgl. Aristoteles, HistAn IX 23.2; Plinius, NatHist X 3; Ambrosius, Hex V 18.60 u.ö.). Im Gegensatz zum Adler hat Gott die Israeliten aus ihrem Nest gescheucht, um sie dann auf Adlers Schwingen zu tragen. Genauer: Auch darüber hinaus sind Tristrams Argumente ohnehin nicht sehr stark. Ob auch in den alten arabischen Zeugnissen mit nisr wirklich stets der Gänsegeier gemeint ist, lässt sich gar nicht beurteilen; meist wird es ebenso wie arab. nasr als Bezeichnung sowohl für den Geier als auch für den Adler verstanden. Verwandt ist z.B. akk. našru, ein nur einmal in einem Glossar belegtes Synonym für erû („Adler“). Dass weiter Mi 1,16 auf die Glatzköpfigkeit des nescher abziele, ist auch überhaupt nicht klar. Gerade die Kahlheit am Kopf kann ein nescher ja nicht „vergrößern“. Den Schlüssel zu diesem Vers dürfte Ps 103,5 enthalten: Dieser Vers spricht davon, dass ein nescher „seine Jugend erneut“. Auch das passt am besten zum Adler; vgl. Physiologus 6 (2.-4. Jhd.): „Wenn der Adler alt wird, so werden seine Flügel schwer und seine Augen verdunkeln sich. Dann sucht er eine klare Quelle und fliegt von hier empor zur Sonne, wo er die Flügel und Augen ausbrennt. Darauf lässt er sich herab in die Quelle, taucht dreimal darin unter und wird so verjüngt.“ (Üs.: Lauchert. Auf diesen Mythos wird gewiss auch im Etana-Epos angespielt, als der federlose Adler Tag für Tag zum Sonnengott Schamasch betet und dieser ihm daraufhin Etana schickt, mit dessen Hilfe ihm neues Gefieder wächst. Abgebildet findet man diese Vorstellung z.B. hier). Alte Ausleger haben daher Ps 103,5 entweder direkt mit diesem Mythos erklärt oder mit der Mauser, mit der Adler ebenfalls ihr Gefieder erneuten und sich so „verjüngten“ (vgl. z.B. Maximus von Turin [4. Jhd.], Sermo 55; Saadja; Raschi; weitere bei Bochart II S. 168f.; zum sich mausernden Adler z.B. auch Wünch 2016, S. 3). Auf beide Weisen würde der Adler seine „Kahlheit“ sogar maximal „vergrößern“, anders als der Geier. Ich (S.W.) bin daher unsicher, ob es überhaupt an einer Stelle sinnvoll ist, von der üblichen Üs. „Adler“ abzugehen. Ein weiteres schwaches Indiz könnte schließlich auch noch der assyrische Nisroch sein, von dem 2 Kön 19,37 = Jes 37,38 sprechen. Nach Layard 1850, S. 260 wurde er häufig mit dem Götterwesen auf Bild 5, das vor allem auf und an vielen assyrischen Portalen abgebildet ist, und als nišr-ok mit heb. našr, arab. nasr / nisr, akk. našru und weiteren sem. Kognaten in Verbindung gebracht und dann als „Großer Adler“ erklärt. Eingewandt wurde ebenso häufig, dass im Akkadischen das Wort nišr- gar nicht und der Göttername Nisroch nur in der Bibel belegt sei (vgl. zur Diskussion z.B. DDD, S. 630-632; Kraeling 1933). Das für sich wären noch keine starken Argumente: Ersteres ist seit der Veröffentlichung des Glossars mit našru nicht mehr richtig, letzteres hat wenig Schlagkraft, da es für viele kleine Götter und viele Beinamen auch bekannter Götter im Akkadischen nur je einen Beleg gibt. Seit Wiggerman 1992, bes. S. 75f. ist aber klar, dass es sich bei diesem Vogelwesen nicht um einen Gott im engen Sinn handelt, sondern um einen göttlichen Apkallu (hier: „exorzierender Schutzgeist“). Dennoch könnte dieses Wesen mit „Nisroch“ gemeint sein: Josephus fasst Nisroch in JosAnt x 5,1 nicht als Götternamen, sondern als Bezeichnung des Tempels, das dann also das „Nisroch-Haus seines Gottes“ wäre. Das lässt der hebräische Text zu. Wir wissen erstens, dass dieses Vogelwesen erst seit der Zeit Sennacheribs prominent in Tempeln und Palästen dargestellt war (vgl. Black/Green 1998, S. 143) und zweitens, dass Sennacherib in der Tat den Tempel „seines Gottes Assur“ mit diesem Vogelwesen ausgestattet hatte (vgl. z.B. Huxley 2000, S. 128-130). Ist „Nisroch“ wirklich der oben abgebildete Schutzgeist und konnte ein Tempel nach diesem als „Nisroch-Haus“ bezeichnet werden – beides unsichere Annahmen –, wären 2 Kön 19,37; Jes 37,38 ironisch zu verstehen: Gerade im erst seit Neuestem nach diesem Schutzgeist benannten und von ihm behüteten „Haus“ wäre Sennacherib mitten im Gebet von seinen beiden Söhnen erschlagen worden. Ist das richtig, wäre auch die Rede vom „Nisroch-Haus“ ein Indiz dafür, dass heb. nescher mindestens auch den Adler bezeichnen konnte: Der Kopf des Apkallu ist klar ein Adlerkopf. Huxley 2000, S. 130-132 hat zwar stark dafür argumentiert, dass das markante Kopfgefieder das Gefieder am Hals eines Mönchsgeiers darstellen soll, aber das Kopfgefieder ist exakt das selbe wie beim assyrischen Greifen, was sehr stark dafür spricht, dass es ein Adlerkopf sein soll. (Zurück zu v.4) |
i | Vertrag - traditionell: „Bund“; ein Schlüsselwort des Ersten Testaments (testamentum übrigens ist die Üs. der VL dieses Worts). Der „Bund“ zwischen Gott und Mensch ist in der Bibel stets ein Vertrag inter impares (Lohfink 1964, S. 427) – also zwischen den Menschen hier unten und Gott da oben –, bei denen entweder der Ranghöhere sich selbst zur Unterstützung des Untergebenen verpflichtet oder bei der Untergebene wie hier zur Einhaltung von Geboten und Verordnungen verpflichtet wird. Gemeint ist nie eine „Gemeinschaft“ von Gott und Mensch, wie es im dt. Wort „Bund“ zum Ausdruck käme (richtig z.B. Kwakkel 2021, S. 36f.). Die klassische Übersetzung ist daher nicht sehr treffend. Was Mose hier im Auftrag Gottes dem Volk Israel antragen soll, ist richtiger ein bindender Vertrag. S. näher zu „heilig“ und in den Anmerkungen. (Zurück zu v.5) |
j | sollt (werdet) - Wie sich V. 5a zu 5b verhält, ist leicht umstritten. Nach dem üblichen antiken Vertragsformular (s. z.B. Altman 2004, S. 48) zu urteilen folgt hier nach der Eröffnungsformel, in der die einstigen Wohltaten des ranghöheren Vertragspartners geschildert werden, direkt die Schlussformel, in der in einem Bedingungssatz die Folgen für das (Nicht-)Einhalten des Vertrags beschrieben werden. Vgl. zu dieser Schlussformel etwa im Vertrag von Muršili II. mit Manapa-Tarḫunta: „Wenn du alle diese Dinge tust[, die in diesem ausführlichen Vertrag soeben aufgezählt wurden,] werde ich [dich] als Untertan annehmen. Sei mein Verbündeter! In Zukunft sol[en für dich] diese Verpflichtungen gelten.“ (CTA 69.A i 58f., zitiert nach Christiansen/Devecchi 2013, S. 73). Zu dieser Minimalform des Vertrags s. die Anmerkungen. Patrick 1977, S. 148 und nach ihm z.B. Moberly 1983, S. 226f. FN 4 und Davies 2004, S. 43f. ziehen es vor, stattdessen 5a nicht als Bedingungssatz zu lesen, sondern als logische Voraussetzung: „Wenn ihr 5a tut, hat das automatisch das in 5b-6 zur Folge“. Grammatisch ist das möglich; dass hier aber Israel ein Vertrag angetragen wird, macht wahrscheinlicher, dass 5a entsprechend dem üblichen Vertragsformular zu verstehen ist (s. die Anmerkungen). Vgl. auch noch Dtn 28,9, wo (einmal wieder im Buch Dtn) unsere Stelle zitiert wird: „JHWH wird dich installieren für sich als heiliges Volk, wie er dir geschworen hat, wenn (ki) du die Gebote deines Gottes JHWH einhalten und auf seinen Wegen wandeln willst.“. Auch sonst passt Patricks Interpretation nicht zur Theologie des Dtn, s. zu „heilig“. (Zurück zu v.5) |
k | Vasall (Erwerb) - Heb. sigulah, ein weiteres theologisches Schlüsselwort: Israel ist auch laut Ps 135,4 und Mal 3,17 sigulah Gottes; in Dtn 7,6; 14,2; 26,18; Tit 2,14 heißt Israel sehr ähnlich „sigulah-Volk Gottes“. Sehr nah ist auch der Ausdruck ´am naḥalah („Erb-Volk Gottes“; Dtn 4,20; ähnlich Dtn 9,26.29; 32,9; 1 Kön 8,51.53). sigulah steht dabei entweder für den Gewinn, den Gott sich erarbeitet hat – genauer also dafür, dass Gott sich Israel als Eigentums-Volk für seine Befreiung aus Ägypten und Führung durch die Wüste erworben hat –, oder wegen dem folgenden Vers noch wahrscheinlicher für den Benefizianten-Stand Israels – genauer also dafür, dass Israel sich Gott für seine Wohltaten freiwillig als Untertan unterworfen hat. Beide Bedeutungen treffen sich am besten im Wort „Vasall“: Israel soll Gott für sein Beneficium der Befreiung aus Ägypten und Führung durch die Wüste die Vasallentreue schwören; im Gegenzug fordert Gott per Vasallenrecht die Einhaltung des Bundesbuchs in den folgenden Kapiteln. Genauer: Der Unterschied zwischen den Begriffen sigulah und naḥalah lässt sich aus dem rabbinischen Hebräisch und der Verwendung des verwandten akkadischen Wortes sikiltu(m) erhellen: Meist bezeichnen beide Worte präziser Eigentum, das man sich erarbeitet hat, indem man mit geliehenem Geld gewirtschaftet, indem man gespart oder indem man Kriegsbeute erbeutet hat (vgl. ThWAT V s.v.; auch Greenberg 1951; Held 1961, S. 11f.; Speiser 1956b; Stellen auch bei Lohfink 1969, S. 545f. FN 87. Letzteres auch in Pred 2,8) – im Gegensatz zur naḥalah („Erbe“), die man unverdient besitzt. Besonders oft wird das Wort verwendet, wenn minderjährige Kinder, Frauen oder Angehörende armer Bevölkerungsgruppen, die gerade noch nicht über „Erbeigentum“ verfügen, sich ungewöhnlicherweise dennoch eigenes Eigentum erarbeiten können. Die LXX übersetzt daher recht treffend in Mal 3,17 mit peripoiäsis („Gewinn“) und sonst mit periousios („überschüssig“, vgl. periousia: „Überschuss, Überfluss“). Vgl. zu dieser Bed. deutlich auch Mekilta, Baḥodeš 2 zu unserer Stelle: „[Der Ausdruck bedeutet:] Ihr seid mir genau so kostbar wie jemandem seine sigulah kostbar ist. Aber Rabbi Joschua ben Korcha [2. Jhd.] meinte, der Ausdruck diene nur der Lebendigkeit [der Darstellung]: Gerade dafür, dass man es nicht wirklich so versteht wie ‚Ihr seid msgln [=abgespart] für mich wie die Frau von ihrem Ehemann msglt [=abspart], der Sohn von seinem Vater, der Knecht von seinem Herrn und die Magd von ihrer Herrin‘, fährt die heilige Schrift fort mit: ‚Die ganze Erde gehört mir[, ich musste mir also gar nichts erarbeiten]‘.“ Wahrscheinlich mit der selben Logik, die Redeweise sei zu vermeiden, dass sich Gott Israel erst erwirtschaften musste, übersetzen Syr und die Targumim mit „Geliebte“, und ein ähnliches Verständnis hat sich nach der Umdeutung unserer Stelle in 1 Pet 2,4-10 (vgl. Beentjes 2006, S. 12f.) auch in der christlichen Auslegung durchgesetzt und bisweilen noch bis heute durchgehalten. Gemeint ist nach dem üblichen Sprachgebrauch im Akkadischen und im rabbinischen Hebräisch im Gegenteil gerade nicht „kostbares“ oder „besonders geliebtes Eigentum“ (Houtman 1996: „precious possession“; Kass 2021, S. 287: „treasure“; Markl 2007, S. 63; Assmann 2015, S. 429: „Juwel“), sondern das kleine Vermögen, das man sich mit Mühe vom Munde abgespart hat. Das übliche Verständnis als „Schatz“ könnte höchstens der Vers 1 Chr 29,3 nahelegen, der dann nach V. 2 aber wahrscheinlich ebenfalls so zu deuten ist, dass David nicht nur Krongut für den Tempel aufgewandt hat (V. 2), sondern darüber hinaus (´od + lama´lah, V. 3) hat er sich auch noch selbst weiteren Besitz vom Munde abgespart, nur um damit ebenfalls den Tempel auszustatten. Der Unterschied der Ausdrücke ´am naḥalah („Eigentumsvolk“) und ´am / goj sigulah wäre danach also genauer der, dass Ersterer beschreibt, dass Israel Gottes Eigentum ist, Letzerer dagegen, dass er sich dieses Eigentumsvolk erworben hat wie hier durch sein Handeln in Ägypten und der Wüste. Neben dieser ökonomischen Verwendung des Wortes gibt es im Akkadischen und Ugaritischen aber außerdem einen politisch-religiösen Gebrauch: Man ist jemandes sikiltu(m) / sglt, wenn man dessen Untergebener ist. So ist in RS 18.038 für den hethitischen Großkönig der ugaritische König Ammurapi sein sglt und im Mari-Brief ARM XIV 81 fragt Königin Schibtu sarkastisch über eine andere Königin: „Bin ich etwa ihre Dienerin, ihre Magd oder ihre šagiltam!?“ (29f.). Besonders häufig ist jemand aber sikiltu(m) einer Gottheit – so in den Eigennamen Sikilti-Adad („Sigulah des Hadad“), Sikilti-Uqur („Sigulah des Uqur“) und der Kurzform Sikiltum („Sigulah“); auch auf Alalakh-Tafel II wird König Abban mit einer ähnlichen Reihung wie in ARM XIV bezeichnet als „Diener von Haddu, Liebling von Haddu, sikiltum von...“ (76). Welches Verhältnis bei dieser Verwendung genau mit diesem Begriff ausgedrückt wird, ist nicht klar. Bes. nach ARM XIV 81 ist jemandes sikiltum diesem wahrscheinlich untergeben; spielt auch hier die übliche Bed. von sikiltum mit hinein – wovon auszugehen ist –, wird er ihm außerdem untergeben sein wegen einer Leistung des Höhergestellten. Am besten übersetzt man daher wie vorgeschlagen mit „Vasall“. (Zurück zu v.5) |
l | Königreich von Priestern - Extrem umstrittener Ausdruck; allein mit Texten über diese kurze Phrase ließe sich eine kleine Bibliothek füllen. Sie lässt sich auch wirklich auf unterschiedlichste Weisen verstehen (s.u.); eine Abwägung ist hier sehr schwierig. Ist man mit einer derart schwierigen Stelle konfrontiert, lässt man sich am besten vom Text selbst leiten: Das Ende von V. 5 und V. 6 hängen strukturell eng zusammen: „(Wenn ihr meinen Geboten folgen wollt...,) (A) werdet ihr mir sein Vasall/Eigentum (B) unter den ganzen Völkern: (B') obwohl mir die ganze Erde gehört, (A') werdet ihr mir sein ein Königreich/Königtum von Priestern und ein eine heilige Nation.“ (gut Davies 2004, S. 59; Christian 2011, S. 107; Kim 2014, S. 258). Man wird also die drei Aussprüche darüber, was Israel „sein wird“, gemeinsam auszulegen und dabei davon auszugehen haben, dass der in (A) eine Sonderstellung gegenüber den beiden in (A') hat, da beide durch (BB') voneinander getrennt sind. Weiter: Im Satz (A-B) hat „Vasall/Eigentum unter den ganzen Völkern“ die Tiefenstruktur des üblichen Ausdrucks „Vasallen-Volk/Eigentums-Volk“ (s.o.; w.: „Volk der Vasallität/des Eigentums“, wie auch „heilige Nation“ streng wörtlich „Nation, heilig“ wäre). Israel wird also dreifach charakterisiert: (1) als „Volk der Vasallität/des Eigentums“, (2) als „Königreich/Königtum von Priestern“, (3) als „Nation, heilig“ (gut Wells 2000, S. 56; Dohmen 2004). Vergleicht man die Ausdrücke, steht in jedem potentiell ein Wort, das die Bürger Israels in ihrer Gesamtheit bezeichnet („Volk“, „Königreich“, „Nation“), und in jedem ein Wort, das Menschen beschreibt und diese Menschen in Relation zu Gott setzt („Vasall“, „Priester“, „heilig“; s.u. zu „Heiligkeit“ im Deuteronomismus). Am ehesten hat man die fraglichen einzelnen Begriffe daher in jeweils diesem Sinn zu nehmen: Die Gesamtheit der israelitischen Bürger ist „Gott vasallenpflichtig“, und das heißt konkreter: sie dient ihm „gleich Priestern“ / „als Priester“ (s.u.) und ist „ihm geheiligt“, ist also das „Privat-Volk dieses Gottes“, der über es als König herrscht. Fragt man dann schließlich nach dem Verhältnis von (A) zu (A'), wird (A') am ehesten Entfaltung und Präzisierung von (A) sein: „Volk“ ist der allgemeinste Begriff, „Nation“ und „Königreich“ grenzen ein aufs Politische; ähnlich ist „Eigentum / Vasall“ algemein, während „Priester“ und „heilig“ aufs Religiöse eingrenzen. Daher im Übersetzungsvorschlag oben der Doppelpunkt nach Völkern. Auslegungsgeschichte: Wurzel der Diskussion um den Ausdruck ist natürlich, dass er in 1 Pet 2,9 und Offb 5,10 (und Offb 1,6; 20,6) zitiert wird und Luther seinen Generalangriff gegen die katholische Kirche auf ihn gestützt hat: „Man hat's erfunden, daß Papst, Bischöfe, Priester und Klostervolk der geistliche Stand genannt werden, Fürsten, Herren, Handwerks- und Ackersleute der weltliche Stand, was eine gar feine Erdichtung und Heuchelei ist. Doch soll sich niemand dadurch einschüchtern lassen, und zwar aus diesem Grund: Alle Christen sind wahrhaft geistlichen Standes ..., wie St. Peter 1.Petr.2,9 sagt: ‚Ihr seid ein königliches Priestertum und ein priesterliches Königreich‘, und die Offenbarung: ‚Du hast uns durch dein Blut zu Priestern und Königen gemacht.‘ (Off.5,10). ... Darum ist des Bischofs Weihe nicht anders, als wenn er an Stelle und als Vertreter der ganzen Versammlung einen aus der Menge nimmt, die alle gleiche Gewalt haben, und ihm befiehlt, diese Gewalt für die andern auszuüben...!“ (An den christlichen Adel deutscher Nation. Modernisiert von U. Köpf). Diese Auslegung hat übrigens eine sehr lange Tradition; schon im Seder Elijahu Rabba 79 wird ein Ausspruch von Rabbi Acha (frühes 4. Jhd.) überliefert, der erklärt, zum Ornat des Hohepriesters gehöre deshalb eine Brustplatte mit auf Edelsteinen eingravierten Namen der zwölf Stämme Israels, weil auch der Hohepriester nur stellvertretend für alle Israeliten am Altar stehe und alle anderen theoretisch genauso gut dort vorne stehen könnten: „Warum sind die Namen der Stämme auf den Steinen eingraviert? Weil auf dem Sinai alle ‚Priester‘ genannt wurden ... Es ist (nun aber ja) unmöglich, dass (jeweils) alle (gleichzeitig) am Altar zugegen sind. Daher mussten alle Namen über dem Herzen des Hohepriesters eingraviert werden. Danach (gilt nämlich:) Wenn der Hohepriester eintritt, um vor Gott ein Opfer darzubringen, ist es, als stünde jeder von diesen als Hohepriester vor ihm, gekleidet in priesterliche Gewänder.“ Andere Deutungen: „Königreich von Priestern“ ist im Heb. eine Genitivkonstruktion. Man hat sie v.a. auf vier verschiedene Weisen aufgelöst, die alle sprachlich möglich sind: (1) als Genitivus appositionis, (2) als Genitivus qualitatis, (3) als attribuierenden Genitiv (vgl. GKC §132c; IBHS §95.3c) und (4) als Genitivus agentis. Daraus sind dann folgende Deutungen entstanden (die meisten Ausleger kombinieren mehrere dieser Deutungen zu unterschiedlichsten Konstellationen): (1) „Ihr werdet mir sein ein Königreich, Priester“ oder mit mamlakah i.S.v. „König“: „Ihr werdet mir sein König, Priesterschaft“. Das macht wenig Sinn, so aber fast durch die Bank die alten Übersetzer: LXX wahrscheinlich „Königreich, Priesterschaft“ (vgl. Elliott 1966, S. 75); Sym, Theod: „Königreich, Priester“; TgO, TgN, TgF, Syr: „Könige, Priester“ oder „Könige und Priester“. Hieraus sind dann wahrscheinlich auch die Fomulierungen in Offb und auch in Jub 16,18 entstanden: „Könige und Priester“. (2a) Ein „priesterliches Königreich“, also ein Königreich, das als Ganzes ein Verhältnis zu Gott hat wie ein Priester. So z.B. auch Houtman 1996; Dohmen 2004, S. 63; Assmann 2015, S. 230; Kass 2021, S. 293. Verwandt ist die selbe Auflösung, bei der aber betont wird, dass Israel insofern „Königreich“ ist, als Gott von nun an König ist (s. Ex 15,18; Num 23,21f.; Ps 114,1f. u.ö.; so z.B. Tomaso Malvenda; Elliott 1966, S. 53.55f.; Wells 2000, S. 56). Nimmt man das hinzu, ist dies die sinnvollste Deutung, s.o. Einige Ausleger wollen dies noch so weiterführen, dass sie aus 2 Sam 8,18 ableiten, „Priester“ könne auch etwas bedeuten wie „Minister“, wonach die „Priester“ in diesem priesterlichen Königreich sogar wörtlich die „Gottes-Diener“ (Ramban) wären. So schon Raschi, Raschbam, Nikolaus von Lyra; z.B. auch Buber 1962, S. 121; Wildberger 1960, S. 81-83; Jacob 1997. Aber diese Wortbedeutung ist ungewiss; auch wenn sie gesichert wäre, wäre sie die hier am wenigsten wahrscheinliche. (2b) Ein Königreich, das gänzlich von Priestern im Vollsinn dieses Wortes bevölkert ist, weil alle die Priesterwürde innehaben (s. Num 16,3!). Dazu s. schon oben Rabbi Acha (4. Jhd.) und Luther; ebenso b.Schab 88a (s. die Anmerkungen); b. Zeb 19a (wegen Ex 19,6 hat jeder einzelne Israelit sich ordentlich zu kleiden wie ein Priester). Diese Deutung hat heute wieder einige Anhänger, seit Blum 1990, S. 51f. gut beobachtet hat, dass in Ex 24,4-8, dem strukturellen Gegenstück unseres Abschnitts (s. die Anmerkungen zur Redaktionskritik), die jungen Männer gleich Priestern Gott Opfer darbringen und Mose Volk und Altar mit Blut besprengt, was seine nächsten Parallelen in der Priesterweihe in Ex 29,20f.; Lev 8,22f. hat. Hinzufügen könnte man aus dem selben Abschnitt noch die Szene, wo die Ältesten im Angesicht Gottes Mahl halten, was wohl auf die die Opfermahle anspielen soll, die nur Priester im Tempel verzehren durften (s. z.B. Lev 6,18f.). Muss man im „Königreich der Priester“ noch mehr mithören als „Königreich aus Gottes-Dienern“, sollte man durchaus dies mithören (so z.B. auch Crüsemann 2015, S. 417; Utzschneider 2017, S. 14; Krause 2020, S. 113f. und Schmitt 2022, S. 176f.). Oswald 1998, S. 128f.138.142f. und Chavel 2015, S. 186 haben versucht, dies auch noch sozialgeschichtlich zu erklären: Im Hintergrund stünde die Situation des Exils, wo die exilierten und die zurückgebliebenen Israeliten keine Tempel und oft auch keine Priester zur Verfügung hatten. Daher wird in unserem Abschnitt ganz Israel zu Priestern erklärt, in 24,4-8 auch zu solchen geweiht, und Ex 20,24-26 bestimmt darüber hinaus, dass für den Priesterdienst nicht mehr vonnöten sei als ein schnell aufgeschütteter Erdhaufen als Altar. Mindestens als Auslegung des Endtextes, wie er in der Bibel vorliegt, ist Oswalds und Chavels Deutung wirklich rund – auch diese Theologie findet sich nun also in der Bibel: Es braucht gar kein ordiniertes Priestertum; alles, was ein Angehöriger des Volkes Gottes braucht, ist ein Stein oder Erdhaufen, auf dem er Gott opfern kann. (2c) Ein „priesterliches Königreich“, also ein Königreich, das wie in Sach 8,22f. den Gott Israels den anderen Völkern vermittelt (so z.B. Rav Hirsch; häufig kombiniert mit (2a), z.B. bei Sarna 1991; Dozeman 2009; Wright 2006, S. 330f.: Israel ist bestimmt zu Gottesdienst und Volksmission). (2d + 3): Für bspw. Paulus Fagius; Schüssler Fiorenza 1972, S. 142 und Levenson 1987, S. 31 heißt „priesterliches Königtum“ und für Davies 2004, S. 102 aus unerfindlichen Gründen „königliches Priestertum“, dass Israel spirituell und politisch so weit über den umgebenden Völkern steht, dass es im Verhältnis zu diesen geradezu als „Priester und König unter den Nationen“ bezeichnet werden müsste (vgl. Jes 61,6). (4a) „ein Königreich, über das Priester als Könige walten“, genauer nämlich über die verwaltete „heilige Nation“ (z.B. Moran 1962). Auch diese Deutung hat heute wieder einige Anhänger, seit angenommen wird, Vv. 4-8 seien sehr spät von nachpriesterschriftlichen Autoren verfasst worden (s. die Anmerkungen) und im Hintergrund stehe die Situation der hellenistischen Zeit, dass Israel quasi von Priestern regiert worden sei (z.B. Lohfink 1990b, S. 355; Otto 1996b, S. 77; Schenker 1999, S. 583-585). Aber richtig Propp 2006: Auch in dieser Zeit wurden die Hohepriester erst um 104 v. Chr. auch zu „Königen“, das ist viel zu spät zur Erklärung diesse Abschnitts. Zur Datierung als nachpriesterschriftlich s. zu V. 3. (4b) Fohrer 1963b hat dies einflussreich noch abgewandelt und wieder mamlakah i.S.v. „König“ genommen: „eine heilige Nation mit einem priesterlichen König“. Dito. Zum Argument von Moran und Fohrer (und z.B. Schüssler Fiorenza 1972, S. 141f.), es müsse dann, wenn goj („Nation“) neben mamlakah („König“ oder „Königtum“, hier genommen i.S.v. „Regierung“) steht, das eine Wort die Beherrschten und das andere die/den Beherrschenden meinen, s. nur Ez 29,15; 1 Chr 16,20 = Ps 105,13, auf die auch Moran selbst hinweist, außerdem Ez 37,22. (Zurück zu v.6) |
m | heilig (asketisch, meine) - Noch ein Schlüsselwort der Bibel. „Asketisch“, wie hier als Übersetzungsalternative vorgeschlagen wurde, ist eigentlich nicht sehr treffend, aber „heilig“ noch weniger, wenn man vom heutigen Verständnis dieses Wortes ausgeht. Am ehesten träfe den Sinn dieser Stelle und verwandter Stellen im Buch Dtn statt „heilige(s) Nation/Volk“ eine Übersetzung wie „meine Nation“. Ähnlich z.B. GN: „Ein Volk, das mir ganz zur Verfügung steht und mir ungeteilt dient“; HfA: „Ein heiliges Volk, das allein mir gehört“. Heute ist ein „Heiliger“ grob eine religiöse Person mit Vorbildcharakter, die Gott auch als solche anerkannt hat, daher für diese Person Wunder wirkt und sie nach ihrem Tod auf irgendeine Weise „nahe bei sich“ sein lässt. Im Alten Israel dagegen waren zwei andere Konzeptionen von „Heiligkeit“ verbreitet: Die der priesterschriftlichen Schule und die der deuteronomistischen, die auch hinter md. Vv. 4-8 unseres Kapitels steht (s. die Anmerkungen; zum Folgenden vgl. z.B. Weinfeld 1969). Nach beiden Konzeptionen ist „Heiligkeit“ soviel wie „Hingeordnet-sein auf Gott“, den Inbegriff der Heiligkeit (s. Jes 6,3). Für die priesterschriftliche Schule ist diese irdische „Heiligkeit“ aber genauer verletzlich, gestuft und kann auch Orten und Dingen zukommen: Etwas oder jemand kann seine Heiligkeit verlieren, indem er oder es „verunreinigt“ wird, z.B. durch Kontakt mit den falschen Menschen oder Dingen. Heiligkeit lässt sich aber auch wiederherstellen und „aufladen“. Etwa hier: „Ich bin JHWH, euer Gott. Darum heiligt euch und seid heilig, denn ich bin heilig. Ihr sollt euch nicht selbst verunreinigen durch irgend Gewürm, das sich auf der Erde schlängelt!“ (Lev 11,44). Besonders Priester – laut der Priesterschrift die Nachkommen Aarons – sind zu solcher Heiligkeit und Reinigung berufen, da sie ihren Dienst an „heiligem Ort“ und mit „heiligem Gerät“ verrichten. Solche „Reinigung“ kann geschehen durch spezielle Riten wie die Waschung oder durch bestimmte kultische Handlungen. Die deuteronomistische Schule hat eine radikal andere Vorstellung. Dinge und Gebäude können im Deuteronomium gar nicht heilig sein. Und auch bei Menschen gibt es nicht unterschiedliche „Grade“ von Heiligkeit: „Heilig“ ist das ganze Volk Israels, ausnahmslos und von vornherein – nur dank der Tatsache, dass Gott sich Israel in Ägypten als sein Volk erwählt hat. Das bringt für dieses auserwählte Volk aber auch eine Reihe von Verboten und Pflichten mit sich: In Dtn 7,1-5 etwa das Verbot, fremde Götter anzubeten – „denn du bist ein heiliges Volk für deinen Gott JHWH: Er hat dich erwählt, ihm Vasallen-Volk zu sein aus allen Völkern der Welt!“ (Dtn 7,6). Laut Dtn 14,1 darf man sich nicht ritzen oder eine Glatze scheren (s. dort), – „denn du bist ein heiliges Volk für deinen Gott JHWH: Er hat dich erwählt, ihm Vasallen-Volk zu sein aus allen Völkern der Welt!“ (Dtn 14,2). In Dtn 14,3-21a wird eine Reihe von Tieren als Speise verboten, die ein Migrant, der nicht zum Volk Gottes gehört, problemlos essen darf (14,21b) – „denn du bist ein heiliges Volk für deinen Gott JHWH!“ (Dtn 14,21c). Und immer so weiter. Dass es diese zweite Vorstellung ist, die hinter unserem Satz steht, ist klar: Hier wird dieses Verhältnis zwischen Gott und seinem auserwählten, ihm geheiligten Volk erst ins Sein gesetzt: Sobald Israel sich dazu entscheidet, den von JHWH vorgeschlagenen Vertrag zu unterschreiben, wird es ein solches sein und hat dann im Gegenzug die noch auszuführenden Gebote einzuhalten (vgl. gut z.B. Krause 2020, S. 113f.133; s. zu dieser Idee deutlich Dtn 26,17-19; 27,9f.). S. dann weiter in den Anmerkungen. Danach ist es also erstens gerade kein Automatismus, was Vv. 5f. vorschlagen: Israel ist nicht schon automatisch „heilige Nation“, wann immer sie Gottes Gebote bewahrt, sondern erst, wenn sie einwilligen, Gottes Gebote wahren zu wollen, werden sie von da an heilige Nation sein und müssen als solche dann Gott Folge Leisten. Und zweitens darf man dann gerade nicht erwarten, dass in der Zeile zuvor gesagt wird, eine Teilgruppe Israels sei „priesterlich, d.h. heilig in gesteigerter Weise und in hervorragendem Maße“ (Fohrer 1963b, S. 361, Hervorhebung: S.W.). Beides passt nicht gut zur deuteronomistischen Theologie. (Zurück zu v.6) |
n | (Älteste=) Familienoberhäupter des Volks - Soziale Institution altisraelitischer Ortschaften: In öffentlichen Fragen hatten die „Ältesten“ die letzte Entscheidungsgewalt und vertraten auch sonst d.Ö. die gesamte Ortsbevölkerung. Meist hält man sie für identisch mit den Familienoberhäuptern von Sippen, obwohl sich das nirgends zweifelsfrei belegen lässt (vgl. Älteste (AT) (WiBiLex). Diese Führerrolle wurde v.a. von der deuteronomistischen Schule propagiert und wird hier in die ideale Zeit am Sinai zurückgespiegelt (Buchholz 1988, S. 41f.); ob sie jemals wirklich derart entwickelt war wie in deuteronomistischen Texten, ist ungewiss. Als solche Führer der Gemeinschaft handeln sie jedenfalls auch hier und in Ex 24,1.9-11, also stellvertretend für das ganze Volk Israels (V. 8: „das ganze Volk“). (Zurück zu v.7) |
o | Alles, was JHWH gesprochen hat - Was genau eigentlich? – (1) Die Gebote, die erst ab Kap. 20 expliziert werden, auf die Gott aber schon mit der Rede von „meinem Vertrag“ und „meiner Stimme“ in V. 5 hingedeutet hat? (So die meisten; z.B. Childs 1976; Propp 2006; Albertz 2015). (2) Die Gebote, die dem Leser erst ab Kap. 20 aufgezählt werden, die man sich aber schon nach Ex 19,6 als von Gott ausgesprochen denken muss? (Houtman 1996) (3) Dass sie mit Gott einen Vertrag schließen und so seine Vasallen werden sollen? (So z.B. Oswald 1999, S. 178; Dohmen 2004; Dozeman 2009) (3) wäre am rundesten, aber es ist fraglich, ob „Vasall sein, Priester sein, heilig sein“ etwas ist, das man „tun“ kann. Besser denkt man daher an (1). (Zurück zu v.8) |
p | Nach jüd. Deutung am dritten Tag; so z.B. Raschi. (Zurück zu v.8) |
q | Redaktionskritik: Man kann V. 9 sinnvoll nach V. 8 verstehen: „Mose überbrachte die Worte des Volks“ muss nur heißen, dass er auf den Berg zurückgekehrt ist; in V. 9a spricht dann Gott und erst in 9b tut Mose, was er sich vorgenommen hat, und „erzählt“ auch wirklich die Worte des Volks (so z.B. Jacob 1997; Oswald 1998, S. 34f.). So gedeutet beendet man V. 8 am besten mit Doppelpunkt statt Punkt. van Seters 1994, S. 249 will ähnlich wajjašab („er kehrte zurück“) statt wajjašeb (w. „er brachte zurück“) lesen, um ähnlich deuten zu können, aber das wäre nicht einmal notwendig. Eine dritte kleine Gruppe von Auslegern hält 9b für eine rein rhetorische Wiederaufnahme von 8a: „Er überbrachte die Worte“ – Gottesrede – „Als er wie gesagt die Worte erzählt hatte, ...“ (z.B. Sarna 1991; Houtman 1996; Römer 2009, S. 136 FN 40). Wiederaufnahmen wie die von 8b in 9b sind aber häufig ein deutliches Zeichen für spätere Einfügungen von Textergänzungen; die Technik ist auch aus der Textkritik zweifelsfrei bekannt. Ein schönes Beispiel: In 11QTa lv 21 wird Dtn 17,5 zitiert: „Diesen Mann oder diese Frau sollst du steinigen!“. In Dtn 17,5 dagegen lautet die Stelle: „Diesen Mann oder diese Frau, |
r | Heiligen - d.h. lass sie sich durch (z.B. Waschungs-)Rituale und (z.B. sexuelle) Abstinenz reinigen, damit sie wohl vorbereitet sind für die Begegnung mit mir! Vgl. ähnlich Gen 35,2f.; Num 8,7; Jos 3,5. Dieses Konzept der „Heiligkeit“ ist ein merklich anderes als das im Vers 6, wonach die Israeliten dauerhaft eine „heilige Nation“ sein sollen (s. dort). (Zurück zu v.10) |
s | JHWH spricht häufig von sich in der dritten Person, bes. bei feierlichen Proklamationen. Vgl. zum Phänomen z.B. Malone 2009. (Zurück zu v.11) |
t | Danach stiege Gott also am fünften Tag hinab. Damit Gott wie gewünscht am siebten Tag die Gebote offenbart, gehen die alten Rabbinen davon aus, dass der in Ex 24 beschriebene Altarbau noch am vierten Tag geschehen sei und Gott von dort aus mit drei Tagen rechnet (Mechilta; Raschi). Das liegt sehr fern. Aber wir können annehmen, dass Gott am fünften Tag hinabstieg, dass wir uns die Geschehnisse in Vv. 20-25 aber am sechsten Tag denken müssen. Dann könnte Kapitel 20 wirklich vom siebten Tag berichten. (Zurück zu v.11) |
u | Textkritik: Die meisten Vrs. wie MT: „das Volk ringsum abgrenzen“, als solle Mose Viehhürden rings um das Volk aufstellen. Sam weit logischer wie in V. 23: „den Berg ringsum abgrenzen“. Beer 1939 hält das für ursprünglich; noch Propp 2006 erwägt dies. Aber weit wahrscheinlicher hat Sam den schwierigen Wortlaut von MT vereinfacht, indem er V. 12 an V. 23 assimiliert hat (richtig z.B. Cassuto 1967; Childs 1974; Albertz 2015). (Zurück zu v.12) |
v | Textkritik: Statt hiššamru lakem ´alot lies hiššamru lakeme´alot für hiššamru lakem me´alot, shared consonant. Zur Konstr. vgl. Gen 31,29; 2 Kön 6,9. (Zurück zu v.12) |
w | Die Mechilta überliefert hier ein Sprichwort nach Rabbi Josi, dass sich mitzuteilen lohnt: „Nicht der Ort ehrt die Person: Die Person ehrt den Ort!“ Heißt hier: Natürlich ist der Sinai nicht deshalb tabu, weil er per se heilig wäre, sondern erst Gottes Anwesenheit macht ihn nur für deren Dauer zum heiligen Ort. (Zurück zu v.12) |
x | ihn berühren, sonst/sondern - Entweder wird noch einmal wiederholt, dass der Berg nicht berührt werden darf, und ergänzt wird die Strafe: „sonst wird der, der ihn berührt hat, getötet“. Oder es wird gesagt, dass der Missetäter nicht berührt werden darf, da man sich sonst mit seiner Sünde ansteckt, weshalb er stattdessen aus der Ferne durch Steinigung oder Erschießung getötet werden soll. S. noch nächste FN. (Zurück zu v.13) |
y | Unklar. Sollen die Israeliten den Missetäter töten oder wird er durch übernatürlichen Stein- oder Blitzschlag getötet werden? Und falls die Strafe übernatürlich ist, heißt dann jaroh jijjareh „erschießend erschießen“ oder „herabwerfend herabwerfen“ (s. Ijob 30,19), wonach der Missetäter nicht durch Blitze/Steinschlag abgeworfen würde, sondern getötet würde, indem Gott ihn selbst vom Berg herabwirft? Jede dieser Varianten hat Vertreter: „ihr habt ihn zu steinigen und zu erschießen“ (z.B. ibn Ezra; Ehrlich 1908, S. 338; Houtman 1996), „er wird auf übernatürliche Weise gesteinigt und erschossen werden“ (z.B. die Targumim; Jacob 1997; Albertz 2015, S. 45), „er wird auf übernatürliche Weise gesteinigt und herabgestürzt werden“ (b.San 45a; auch Dohmen 2004, der aber an herabstürzende Menschen denkt). Möglich noch Mechilta de Rabbi Schimon: „Jeder, der der gesteinigt wird, wird niedergeworfen“; offenbar wird hier der Ausdruck so gedeutet, dass nur das Vieh oder der Mensch auf dem Berg so durch gezielte Würfe gesteinigt werden soll, dass es oder er von selbst abstürzt. Dt. Übersetzungen glauben sehr einheitlich, dass man den Missetäter nicht anrühren darf, sondern dass die Israeliten ihn umbringen sollen, indem sie ihn aus der Ferne mit Steinen oder Pfeil und Bogen töten. Das ist auch am wahrscheinlichsten: mot jamut („er ist des Todes“, w. „er soll sterbend sterben“) ist ein häufiger Rechtssatz. Danach wird man dann auch „er soll steinigend gesteinigt werden“ und „er soll erschießend erschossen werden“ für solche Rechtssätze halten, obwohl die Todesstrafe durch Erschießen sonst in der Bibel nicht belegt ist. (Zurück zu v.13) |
z | Ob Vieh, ob Mensch - s. zu Gen 6,13: Offenbar gehören Tiere in der Bibel zur Dorfgemeinschaft. Sie sind daher von sich ausbreitender Verderbnis durch menschliche Sünden ebenso betroffen wie die Mitmenschen der Sünder (s. ebd.) und müssen daher sogar ebenso Buße tun wie diese, wenn es gilt, sich von solchen zu reinigen (s. Jon 3,7). Entsprechend machte es dann hier keinen Unterschied, ob Mensch oder Vieh den Berg berührt. Übrigens schließt Gott in Gen 9,11 auch mit den Tieren seinen Bund. Kann man sich dies nach diesem Vers auch hier vorstellen? (Zurück zu v.13) |
aa | tFN + Textkritik: Seltsam. mašak („ziehen“) heißt auch „andauern“, wird auch in Jos 6,5 gesagt vom Erschallen des Widderhorn, das als Signaltrompete verwendet wurde, und wird daher oft mit „anhaltend klingen“ übersetzt. Das wird richtig sein. Problematisch ist aber erstens das Substantiv und zweitens der Zusammenhang des Verses mit dem Schluss des Kapitels: Das Substantiv jobel ist nach Jos 6 (5x) klar der Widder selbst und nicht sein Horn. Propp 2006 übersetzt daher wörtlich mit „When the ram pulls“; was er damit sagen will, wird aber nicht recht klar. Alle anderen gehen stillschweigend davon aus, dass „Widder“ hier synekdochisch für „Klang des Widderhorns“ steht. Ich (S.W.) bin aber gar nicht sicher, ob bloßes „Widder“ textkritisch gesichert ist: Die meisten Vrs. (Aq, Sym, Theod, Syr, die meisten Tgg) stützen MT. TgPsJ hat „der Klang (qwl) des Schofar“ was man alleine noch für Assimilation an V. 19 halten würde. Aber LXX hat „Die Klänge und das Horn“ und VUL „wenn anfängt das Horn“, was vielleicht auf ḥwl hjbl zurückgeht (von ḥll, „anfangen“, auch „(ein Instrument) blasen“, s. 1 Kön 1,40). Könnten diese drei gemeinsam und je unterschiedlich במשך חול היובל („Beim Andauern des Blasens des Widder[horns]“) voraussetzen? So aber niemand. Am wichtigsten: LXX, Sym, Theod und Syr übersetzen statt „sich hinziehen“ alle etwas wie „verklingen“, „still sein“. Das aram. negad („ziehen“), mit dem hier auch TgPsJ und TgO übersetzen, kann auch „sterben, ohnmächtig werden“ bedeuten – könnte entsprechend mašak wirklich für das „Absterben“ = „Verhallen“ des Klangs stehen? Dagegen z.B. Wevers 1990, S. 300f.; Propp 2006; Tov 2017, S. 12, die wahrscheinlicher LXX (und danach Sym, Theod und Syr) für eine reine Harmonisierung mit Vv. 19-25 halten: Die natürlichste Bed. unseres Verses ist, dass hier das Hinaufsteigen beim Erklingen des Horns gestattet, nach V. 18 aber verboten wird. Weil noch andere Indizien Vv. 19-25 als sekundär erweisen, ist dies am ehesten kein Problem des Textes von V. 13, sondern ein redaktionskritisches und es war gerade das Ziel von Vv. 19-25, das Gegenteil von V. 13 zu sagen. S. die Anmerkungen. Auch einige aktuelle Ausleger wollen V. 13 mit Vv. 19-25 harmonisieren; z.B. Jacob 1997; Dohmen 2004; Stoppel 2018, S. 305 nehmen mit Raschi an, irgendein anderer Klang als der Klang des Schofar (!) in V. 19 sei Signal dafür, dass nun der Berg wieder betreten werden darf, und nur hiervon sei hier die Rede. Aber vgl. Jos 6,5 zum Parallelismus von Widderhorn und Schofar; es ist durchaus das wahrscheinlichste, dass wirklich V. 13 und V. 19 vom selben Signal sprechen, aber V. 13 etwas anderes darüber sagt als Vv. 20-25. (Zurück zu v.13) |
ab | Naht euch keiner Frau wird traditionell als Aufruf zur sexuellen Abstinenz verstanden. Jacob 1997; Dohmen 2004 und Albertz 2015 wenden ein, dass erstens nach biblischem Glauben Geschlechtsverkehr nur für einen Tag unrein mache und dass „nahen“ nie für Geschlechtsverkehr stehe. Stattdessen soll der Satz bedeuten: „Sie sollen sich demnächst ja Gott nahen“ (wie Priester sich in V. 22 und wie Mose sich in Ex 20,21 Gott „naht“), „daher sollen sie dafür spirituell frei sein, indem sie niemandem anderen nahen“. Aber zu „nahen“ als Euphemismus für Verkehr s. Paul 2002, S. 492 zum akk. qerēbu und zu Gen 20,4; Jes 8,3 und Ez 18,6. 1 Sam 21,6 könnte außerdem nahelegen, dass nach einer Tradition in der Bibel Verkehr doch auch drei Tage lang unrein macht (richtig Propp 2006; für 1 Sam 20,26, worauf er noch hinweist, gilt das aber wahrscheinlich gerade nicht. Aber s. noch in der Mischna, m.Schab ix 3, wo ebenfalls davon ausgegangen wird, dass eine Frau noch drei Tagen nach dem Verkehr unrein sein kann, und wo dies mit unserem Vers erklärt wird. Ebenso in der Mechilta de Rabbi Jischmael; in der Mechilta de Rabbi Schimon folgt darauf ein Disput: Laut Rabbi Jischmael währt diese Unreinheit zwischen zwei und drei Tagen, laut Rabbi Akiba stets genau zweieinhalb). Entscheidend ist aber ja ohnehin: Verkehrt wurde doch auch im Alten Israel gewiss nachts; würde ein Pärchen dies also in der kommenden Nacht tun, wären sie damit sehr wohl auch am zugehörigen folgenden Tag unrein (Lev 15,17f.: „bis zum Abend“). Die traditionelle Deutung ist durchaus wahrscheinlicher. (Zurück zu v.15) |
ac | Am dritten Tag - Insgesamt also am fünften, wenn wir mit den jüd. Auslegern die Offenbarung der Gebote für den siebten Tag annehmen wollen. (Zurück zu v.16) |
ad | lautes, lautes Schofar-Getöse - w. „der Klang des Schofar, sehr sehr“. Das singularische „Getöse“ ist das selbe Wort wie das, das eben im Plural verwendet wurde; das „Tosen“ sollen also offenbar etwas anderes sein als der Schofar-Getöse (Rabbenu Bahja: „Dass der Donner als Erstes genannt wurde, sollte sicherstellen, dass wir das Wort nicht mit dem Schofarklang verwechseln“). Am ehesten wird Donner gemeint sein. Ist dann also der Schofar-Klang wörtlich zu nehmen? Haben wir uns unsichtbare Engelstrompeten vorzustellen, die Gottes Herabkunft begleiten? So z.B. Sarna 1991; Houtman 1996; Albertz 2015; vgl. ähnlich Ps 47,6. Cassuto 1967 allerdings will auch den Schofar-Klang als natürliches Geräusch erklären, das nur an Schofarklang erinnert: Er denkt an das Sausen des Winds, Sarna 1991 alternativ auch hier an den Donnerklang. Das ist weniger wahrscheinlich. (Zurück zu v.16) |
ae | tFN: vom Hinabstieg - W. deshalb, weil Gott in Feuer auf ihn hinabgestiegen war. Der Doppelausdruck deshalb, weil scheint ein im Heb. ungewöhnlicher Aramäismus zu sein, der insgesamt die Klausel Gott war auf ihn im Feuer hinabgestiegen zum modalen Substantivsatz macht (vgl. gut Hardy 2015). (Zurück zu v.18) |
af | im Feuer (als Feuer) - Feuer ist noch häufiger ein Begleitphänomen von Theophanien. Sommer 2015, S. 33 denkt aber schön an Ex 3, wo Gott dem Mose als Feuer begegnete. Das wäre möglich, aber s. die drei FNn weiter. (Zurück zu v.18) |
ag | Rauch - faszinierend: „er rauchte“ war ´aśan, „sein Rauch“ ´aśan-o, wie auch sonst „Rauch“ ´aśan heißt. Hier aber, beim dritten Vorkommen, heißt der Rauch ´eśen. Propp 2006 nimmt dies als ein sonst unbelegtes Synonym von ´aśan an. Aber auch wenn das richtig ist, ist der Grund für die Verwendung des Synonyms / der anormalen Form gewiss der, dass der himmlische Rauch auch sprachlich vom gewöhnlichen Rauch unterschieden werden soll – als stünde im Dt. „Der Berg Sinai rauchte. Sein Rauch glich dem Reuch eines Schmelzofens“. Vielleicht meint Mechilta de Rabbi Schimon dies mit „Warum sagt die Schrift: ‚gleich Reuch‘? – Sie lässt das Ohr hören, was es zu hören vermag.“ (Zurück zu v.18) |
ah | Textkritik Nur Sym, die die meisten Targumim, VUL und Syr stützen MT. Einige Handschriften, LXX und zwei Targum-Varianten korrigieren dagegen zu „Volk“ wie in V. 16. Dillmann 1897; Jeremias 1965, S. 102 und selbst noch Aurelius 2003, S. 158 FN 69 halten das für ursprünglich, aber natürlich ist dies nur eine prosaische Assimilation an V. 16. (Zurück zu v.18) |
ai | Gottes Herabkunft steckt den Berg mit Himmelsphänomenen an: Die Blitze werden zu Feuer, die Wolken zu Rauch, der Donner zu Erdbeben. Nun ist der Sinai der Himmel auf Erden. Vgl. 4 Esra 3,17: „(Am Berg Sinai) neigest du den Himmel, schütteltest die Welt, erschüttertest den Erdkreis, dass selbst die Unterwelt bebte.“ Das Bild vom Himmel auf Erden ist wahrscheinlich entstanden aus der Vorstellung vom kosmischen Ort, an dem sich Erde und Himmel überlagern, und der wir bisher am deutlichsten in Gen 11 vom Turm von Babel und in Gen 28 bei der Treppe in den Himmel begegnet sind. S. zu dieser Vorstellung näher zu Am 9,6. Die Feuerzungen in Apg 2,2-3 erklären sich übrigens wahrscheinlich aus dieser Stelle. (Zurück zu v.18) |
aj | Unter (mit) Getöse - Die Umstände, die man sich mit diesem V. gemacht hat, sind wahrscheinlich überflüssig: Der Vers ist wohl sekundär und soll u.a. gerade ausdrücken, dass das Getöse, das die Erlaubnis zum Aufstieg signalisieren sollte, gar nicht erst aufgehört habe. Unterstrichen wird dies durch die ungewöhnliche Verbform im Hauptsatz: Yiqtol statt Qatal oder Wayyiqtol, um zu unterstreichen, dass dies fortwährend so gegangen sei: w. „Als das Getöse sehr stark anstieg, pflegte Mose zu reden und Gott ihm unter Getöse zu antworten“. Vor allem aber löst der V. ein, was V. 9 ankündigte. Der selben Hand wie diesen Vers weisen ihn daher z.B. auch Blum 1990, S. 48; Oswald 1998, S. 42f.; Aurelius 2003, S. 159; Albertz 2015 und Stoppel 2018, S. 310 zu. Üblicherweise wird der Vers stattdessen so gedeutet, dass mit Getöse irgendwie die Weise angeben solle, auf die Gott antwortet, und dann wird gleichzeitig aber ganz fernliegend qol („Klang, Stimme, Getöse“) anders als bei den anderen drei Vorkommen als „mit einer Stimme“ übersetzt (z.B. Houtman 1996; Dozeman 2009; Kass 2021, S. 302). Besser immerhin noch Ehrlich 1908, S. 338f.: „nur mit einer Stimme“, also körperlos. Aber sollte das Wort wirklich den Modus von Gottes Sprechen angeben, ist nach der Rede vom „Tosen“, vom „lauten, lauten Schofar-Getöse“ und vom „stark ansteigenden Schofar-Getöse“ viel wahrscheinlicher, dass Gott wie in 1 Kön 19,12f. mit einem besonderen Geräusch antwortet. Vgl. v.a. Ps 29,3; Offb 10,4 zur Gottesrede als Donner; ähnlich das Bild von Gottes Sprechen als Sturmwind in Ex 15,8.10; 2 Sam 22,16 = Ps 18,16; Ijob 4,9; Sir 43,16f.; vielleicht auch schon Gen 1,2. van Seters 1994, S. 277 FN 87 berücksichtigt das immerhin; seine Deutung liegt aber auch sehr fern: Er will beqol zu baqqol („mit diesem Getöse“) umvokalisieren und den Text so sagen lassen, dass besagter Hörnerschall Gottes Stimme ist. Muss man sich also vorstellen, dass Gott in V. 16.19a wortlos geschrien hat? Ähnlich aber wieder Dohmen 2004: „Der Schofarton [...ist] die äußere Hülle der sich an Mose wendenden Stimme Gottes“, was immer das heißen soll. Dt. Üss. übersetzen sehr unterschiedlich: „Er antwortete unter Donnerschall“ (PAT); sonst deuten auch hier alle auf den Modus: „Er antwortete in einem Schall“ (B-R, TUR), „Er antwortete im Donner“ (EÜ 80, GN, H-R, HER05 NeÜ, ZÜR), „Er antwortete laut“ (HfA, LUT, MEN, SLT), „Er antwortete für alle hörbar“ (NL), „Er antwortete mit einer Stimme“ (ELB, TAF), „Er antwortete mit verstehbarer Stimme“ (EÜ 16), ganz seltsam BigS: „Er antwortete ihm persönlich“; R-S: „Er antwortete nur in einem Schall“. (Zurück zu v.19) |
ak | Am besten nimmt man V. 19 als Zusammenfassung von Vv. 20-25, da sonst erstens unlogisch ist, dass erst in V. 20 vom Herabstieg Gottes berichtet wird und zweitens ungewiss ist, was beide eigentlich miteinander reden (daher Doppelpunkt statt Punkt; so Cassuto 1967 mit Saadja und Ramban). Wenig zufriedenstellend schließlich Jacob 1997, S. 549: „Was Gott und Mose bei dieser Gelegenheit miteinander geredet haben, sagt die Schrift nicht, weil es jetzt nur auf das Daß ankommt.“ Alternativ rät Dozeman 2009 mit Raschi und ibn Ezra darauf, dass Gott schon bei dieser Gelegenheit die 10 Gebote offenbart habe, was nur aus irgendeinem Grund später berichtet worden wäre; Houtman 1996 nimmt stattdessen an, der Vers solle besagen, dass Gott (grundsätzlich?) gedonnert habe und Mose dies interpretieren musste (wieso aber dann „Mose redet und Gott antwortet“?). (Zurück zu v.19) |
al | Das erste zum Gipfel des Bergs mit der Präp. `el („zum“) ist nach ´al („auf“) etwas seltsam (darum TgO; FTV: b-, TgPsJ; TgN; Geniza-Tg F: ´al). Das zweite zum Gipfel des Bergs wird der Grund sein: Die irreguläre und mit 20b identische Formulierung in 20a soll zum Ausdruck bringen, dass Gott Mose direkt zu sich ruft: Beide sprechen nun Aug' in Auge (gut Cassuto 1967). (Zurück zu v.20) |
am | durchbrechen, nämlich durch die Grenze, die Mose zwischen Volk und Berg errichten sollte. (Zurück zu v.21) |
an | W. die Priester (V. 22), in V. 24 auch das Volk. Gemeint sein müssen trotz Artikel keine Priester, die es aktuell unter den Israeliten gibt, sondern im Heb. wird der Artikel auch verwendet, um auszudrücken, dass z.B. von einer Personen-Klasse als Ganzes die Rede ist (vgl. z.B. GKC §126m). Mitgehört werden muss nach V. 6 natürlich dennoch: Solches bist du gerade nicht, du „Königreich von Priestern und heilige Nation“: Weder Priester, der sich Gott naht, noch heilig genug dafür. Die Differenzierung „die Priester und das Volk“ in V. 24 macht dann sogar noch deutlicher, dass hier durchaus zu differenzieren sei: Natürlich ist das Volk kein allgemeines „Königreich von Priestern“. Die heute übliche Erklärung, hier seien konkrete Priester gemeint und die Vv. seien nur vorsorglich hier schon mal von den Kultpriestern gesagt, die es künftig geben soll (z.B. Dozeman 2009; Kass 2021), kann kaum richtig sein – was hätte das hier zu suchen? Ältere Ausleger haben daher meist nach Personengruppen unter den Israeliten gesucht, die schon von Haus aus und vor der Einsetzung von Priestern aktuell „Priester“ genannt werden könnten. Die jüd. Ausleger dachten meist an die Erstgeborenen der israelitischen Familien, die später durch die Leviten ersetzt werden sollten und die „durch natürliches Recht Priester waren“ (Menochio. S. Ex 13,2; Num 3,12; Num 8,16; so z.B. Mechilta; b.Zeb 115b; j.Meg i 13 u.ö.; auch Nikolaus von Lyra; Matthew Poole). Ähnlich dachte Baumgarten 1843 an die, „welche nach natürlichem Rechte und Brauch bis dahin des Priesteramtes gepflegt haben“, also die Familienoberhäupter (auch Keil 1861; Strack 1894; schon Chizkuni). Am erwägenswertesten Jacob 1997, der lakonisch festhält: „Heute sind alle Israeliten Priester“ – gemeint wären also alle Israeliten am Fuß des Bergs. Aber das widerspricht der Logik des Texts; nach Vv. 4-6 werden die Israeliten „Priester“ erst mit Vertragsschluss, was Ex 24,3-8 auch überdeutlich macht, und die Israeliten haben sich ja schon „geheiligt“, sogar übertrieben lang. Wieder ist übrigens das Heiligkeitskonzept ein anderes als das in V. 6; s.o. (Zurück zu v.22 / zu v.24) |
ao | sich nahen - Partizip; die Priester werden hier also charakterisiert als solche, die dies üblicherweise tun. (Zurück zu v.22) |
ap | bei ihnen einbrechen - Wortspiel mit dem „durchbrechen“ im V. zuvor. Gemeint ist hier aber nicht ebenfalls die Grenze; das Wort in V. 22 kann z.B. verwendet werden von einer Seuche, die an einen Ort „einbricht“ (Ps 106,29) oder einem Krieger, der über jemanden „herfällt“ (Ijob 16,14). (Zurück zu v.22) |
aq | Das hatte Gott nicht gesagt; in V. 12 war die Rede davon, das Volk abzugrenzen und dieses zu heiligen. Mose gesteht mit diesem Satz also ein, dass in der Tat trotz der langen Vorbereitung und der „Heiligung“ des Volks der Berg nach wie vor zu heilig und damit tabu ist selbst für die „geheiligten“ Israeliten. Gleiches galt für die priesterschriftliche Schule für die Stiftshütte und den Tempel in Jerusalem (s. Lev 16,2f.; vgl. z.B. Albertz 2015), die nur vom „Hohepriester (Aaron)“ betreten werden durften (s. im nächsten V.!). Für die deuteronomistische Schule nicht; s. etwa Ex 33,12 vom Laien Josua. Es wird immer offensichtlicher, wie in Vv. 19-25 nicht nur erzählt, sondern vor allem Kontroverstheologie narrativ ausgetragen wird. (Zurück zu v.23) |
ar | Aaron - für die priesterschriftliche Schule das Urbild des Priesters (s. Num 3,3), obwohl er erst in Ex 29 gemeinsam mit seinen Söhnen auch offiziell als Priester eingesetzt werden wird. In Ex 24,1 werden denn auch tatsächlich neben Mose auch Aaron zwei seiner Söhne den Berg besteigen. Viele neuere Ausleger glauben, der Sinai solle in Vv. 20-25 und Ex 24,1 als Symbol für den Tempel in Jerusalem dargestellt werden, mit den drei Zonen Vorhof = Bergesfuß für das Volk, Bergflanke = Tempelgebäude nur für Priester, Berggipfel = Allerheiligstes nur für den Hohepriester (und Mose. Vgl. z.B. Rodríguez 1986 mit guter Grafik auf S. 133; Morales 2011, S. 260-276; Kim 2014b, S. 184-186; Kilchör 2020). Es ist klar, dass hier wie später im Tempel differenziert wird zwischen den Zugangsrechten des ersten Hohepriesters Aaron und gewöhnlichen Priestern. Aber ob der Grund wirklich der ist, dass der Sinai wirklich als Symbol für den Tempel gestaltet werden soll, ist doch fraglich: Zwischen Bergflanke und Berggipfel wird jedenfalls nicht sehr deutlich differenziert, und dass in Ex 24,1 neben Aaron auch seine beiden Söhne genannt werden, aber in V. 2 weder Aaron noch seine Söhne auch auf den Gipfel dürfen, macht das unwahrscheinlich: Die Verse wollen differenzieren zwischen „echten“ Priestern und Volk, nicht Verhaltensregeln für den Jerusalemer Tempel begründen. Oder soll Ex 24,1 mit der Nennung gerade von Nadab und Abihu bereits Num 3,4 vorbereiten und besagen, dass diese beiden übrigens grundsätzlich anmaßend waren? Dann fehlte trotzdem noch Aaron in V. 2. Textkritik: MT, Sam, VUL und die meisten Targumim nur Aaron, aber LXX, VL, Geniza-Tg F und Syr wie üblich „dein Bruder Aaron“. Unsicher: Entweder assim-usu oder Haplographie: In אַהֲרֹן אָחִיךָ konnte leicht eines von beiden Worten als Haplographie entfallen. (Zurück zu v.24) |
as | Textkritik: Die meisten Vrs. wie in der Primärüs. Dagegen Sam, TgPsJ, TgN, Geniza-Tg F: „er stieg hinab vom Berg“. Assim-V. 14? Alternativ Tov 2017, S. 9: Explan. Ein versehentlicher Ausfall oder eine bewusste Streichung wäre jedenfalls nicht gut erklärlich. (Zurück zu v.25) |
at | sagte zu ihm: (gebot ihm.) - `amar heißt nicht „sprechen“; wenn es nicht i.S.v. „befehlen, gebieten“ verwendet wird, fordert es ein Objekt oder eine direkte Rede, die „gesagt“ wird. Vgl. Meier 1992, S. 62-68, bes. S. 67: Er zählt unter 4132 analysierten Stellen nur 22, in denen das anders sei. Eine Reihe davon lassen sich auch noch gut erklären (z.B. mit Substantivsätzen, Brachylogien oder der Üs. als „gebieten“; zu Letzterem s. ebd.); letztlich bleiben danach nur noch Gen 4,8; Num 23,19; 2 Chr 32,24; Ijob 8,10; Ps 50,12 und Jes 38,15. Darunter sind Gen 4,8; 2 Chr 32,24; Jes 38,15 auch noch textkritisch problematisch; insgesamt bleiben mit unserem Vers also nur 4 sichere Stellen unter 4132 – gewiss zu wenig, um `amar i.S.v. „sprechen“ z.B. mit Konkel 2004, S. 26 als seltenen, aber gewöhnlichen Gebrauch des Worts anzusehen. Es macht aber auch keinen Sinn, aufzulösen: „Er sagte zum Volk: ‚Und es sprach Gott... [Zehn Gebote]‘“ (so z.B. Dozeman 2009; Berner 2013, S. 387; richtig dagegen z.B. Propp 2006). Entweder ist die Stelle also so zu erklären, dass „und er sagte zum Volk“ das folgende „Und Gott redete alle diese Worte, indem er sagte“ (Ex 20,1) ersetzen sollte (=> Redaktionskritik), oder man übersetzt „er gebot ihnen“, er gab also Gottes Befehl weiter. (Zurück zu v.25) |