Psalm 10

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Lesefassung (Psalm 10)

(kommt später)

Studienfassung (Psalm 10)

1 [L]a Warum, o JHWH, willst du fern stehen,b
Willst du dich verbergenb in Zeiten der Bedrängnis? -
2 In [seinem] Hochmut (Stolz) verfolgt der Schlechte den Elenden (Armen)c (im Hochmut des Schlechten verfolgt er den Elenden, durch den Stolz des Schlechten brennt der Elende)d
Sie werden gefangen durch die Ränke, die sie erdacht haben.e
3 Ach!, (Denn) der Schlechte rühmt seine Seele für [ihre] Lust,f
Und der Abschneiderg flucht,h verachteti JHWH.
4 Der Schlechte, im Hochmut seiner Nase (in seiner Hochnäsigkeit), [denkt:]j „Er sucht nicht!“k
„Es [gibt] keinen Gott“l [sind] all' seine Gedanken.
5 Profan (stark?)m sind seine Wege allezeit,
Hoch [sind] deine Gesetze (Gerichte), fern von ihm;n
All' seine Gegner, die schnaubt er an.o
6 Er sagt in seinem Herzen (sagt sich): „Ich werde nicht wankenp von Geschlecht zu Geschlecht,
So dass (weil; [ich], der) [ich] nicht (nie) [sein werde] im Unglück.“q
7 [Von] Fluch ist sein Mund voll und [von] List und Gewalttätigkeit,
Unter seiner Zunger [ist] Mühsal und Unheil.
8 Er sitzt im Hinterhalt in Dörfern,s
Um insgeheim Unschuldige (Wehrlose) zu ermorden (wird ... morden).
[Q]a Seine Augen spähen nach dem Verfolgtent
9 Er lauert in [seinem] Versteck wie ein Löwe in einer Höhle -
Er lauert, um den Elenden zu fassen,
Fasst den Elenden, indem er ihn in sein (mit seinem) Netz zieht.u
10 Der bricht zusammen, sinkt niederi
Und fällt in die Klauen (durch die Macht) [der] Verfolger.tv
11 Er spricht in seinem Herzen (zu sich): „Gott vergisst,w
Verbirgt sein Gesicht,x Sieht nicht auf immer!“y


12 [S]a Steh auf, JHWH! Mein Gott (Gott),z heb deine Hand!
Vergissw die Elenden [doch] nicht!
13 Warum verachtet der Schlechte Gott,
sagt in seinem Herzen (sagt sich): „Er sucht nicht!“?k
14 [T]aDu siehst [doch], ach!, du!, Mühsal und Leid.
Untersuche [es], um (indem, so dass) zu geben (man gibt, gegeben wird) [es (ihn)] in deine (mit deiner, aus deiner) Hand.aa
Auf dich kann sich verlassen (wird sich verlassen, wird sich/es dir überlassen) der Verfolgtet,
[Weil] der Helfer der Waise du bist.ab
15 [U]a Zerbrich den Arm des Schlechten und des Bösen!
Sucheac seinad Böses (Unrecht), [bis (so dass)] du [ihn (es)] nicht mehr findest (Sucht man sein Böses, sei es nicht mehr zu finden! Wenn er nach seinem Bösen greift, soll er es nicht finden)!ae
16 [Weil] JHWH König auf immer und [für alle] Zeit [ist],
Verderben Nationenaf aus seinem Land (seiner Erde).
17 [V]a Du hörst das Verlangen der Elenden, JHWH.
Auf die Ausrichtung ihres Herzens (richte ihr Herz aus, richte ihr Herz auf?)ag lass (du wirst, es soll/wird) horchen dein Ohr,
18 um Recht zu schaffen (indem du Recht schaffst) der Waise und dem Unterdrückten:
Es soll nicht weiterhin so weitergehen, dass ein Menschlein aus Erdeah Schrecken verbreitet (Menschlein aus dem Land herausgeschreckt werden).

Anmerkungen

Ps 10 ist kein eigenständiger Psalm, sondern der zweite Teil des einen Psalms Ps 9-10. Diese Anmerkungen sind daher die Fortsetzung der Anmerkungen zu Psalm 9.

Die Zerfaserung des Akrostichons, die am Ende von Psalm 9 eingesetzt hat, setzt sich in Psalm 10 fort. In Vv. 1-11, dem „Klage“-Abschnitt, in dem Gott die ganze Verderbtheit der Gegner vor Augen geführt werden soll, um ihn zum Handeln zu motivieren, finden sich von den sieben erwarteten Anfangsbuchstaben nur noch zwei; auch besteht der Abschnitt aus vier Zeilen zu wenig. „Erwähnung und Diskussion der Bösen, die den Zusammenbruch der ordentlichen göttlichen Ordnung repräsentieren, finden sich exakt an dem Punkt, an dem auch das Akrostichon zusammenbricht.“ (Benun 2006, S. 6; ähnlich Meynet 2015, S. 48).
In Vv. 14-21schließlich wendet sich der Beter wieder mit seiner „Bitte“ an JHWH, in der immer wieder Appell an einen Wesenszug Gottes und Bitte um Gottes Handeln sich abwechseln: Vv. 14a: Du siehst doch - V. 14b: Untersuche!; V. 14cd: Auf dich kann sich der Verfolge verlassen - V. 15: Räche ihn!; V. 17a: Du hörst doch - Lass dein Ohr horchen!
Und von dem Moment an, da er sich von der Meditation seiner Not mit dem Ruf: „Steh auf, JHWH! ... Vergiss die Elenden doch nicht!“ wieder JHWH zuwendet, setzt auch die akrostische Ordnung wieder ein. Der „ordnungslose“ Teil des Psalms fällt zusammen mit dem der Klage über die gottlosen Gegner (Vv. 3b-5b!), der „geordnete“ Teil des Psalms mit dessen Bittgebet an Gott. Es ist, als wolle der Psalm durch seine Form hindurch sagen: Auch, wenn die Welt nicht in Ordnung ist: Solange du nur betest, ist sie es doch, denn: „Auf Gott kann sich verlassen der Verfolgte, weil der der Helfer der Waise ist“ (V. 14).

aPs 10 ist nicht eigentlich ein eigenständiger Psalm, sondern bildet zusammen mit Ps 9 das erste sog. „Akrostichon“ in der Bibel, die Anfangsbuchstaben einiger Zeilen folgen also dem heb. Alphabet (s. die Anmerkungen zu Psalm 9). Um das direkt sichtbar zu machen, haben wir die obigen Buchstaben gesetzt: Wo „A“ steht, findet sich im heb. Text der erste Buchstabe des heb. Alphabets, wo „B“ steht der zweite usw. (Zurück zu v.1 / zu v.8 / zu v.12 / zu v.14 / zu v.15 / zu v.17)
bfern stehen + dich verbergen - Zwei bib. Metaphern: Not wird erfahren als Abwesenheit Gottes; Gott hilft dem Notleidenden nicht, sondern „verbirgt sich“ und „hält sich fern“ von ihm. Zu „fern“ s. ähnlich Ps 10,1; 35,22; 38,22; 71,12; Jes 59,9.11 u.ö. und vgl. z.B. TWAT II, Sp. 770; dem entspricht die Rede vom „sich-Verbergen“ Gottes, s. noch Ps 55,2. (zu v.1)
cden Elenden (Armen) - häufiger Ausdruck für JHWH-Verehrer qua hilfsbedürftige, weil bedrängte, JHWH-Verehrer (vgl. z.B. THAT II, Sp. 345f.). (Zurück zu v.2)
dtFN: In [seinem] Hochmut (Stolz) verfolgt der Schlechte (im Hochmut des Schlechten verfolgt er, durch den Hochmut des Schlechten brennt) - Jede dieser drei Deutungen ist sprachlich gleichermaßen möglich. Die Konsonanten g´wt lassen sich entweder vokalisieren als ga´awath (wie das MT gemacht hat) oder als ge´ut; der Bedeutungsunterschied der beiden Wörter ist minimal. Und ga´awath lässt sich entweder deuten als das erste Glied in einer Genitivverbindung (also „im Hochmut des Schlechten“) oder das -at ist eine Variante der Endung -ah (so z.B. Gordis 1957, S. 112; Rendsburg 1991, S. 89) und also ist wie bei der Deutung als ge´ut aufzulösen: „Im Hochmut verfolgt der Schlechte“. Außerdem möglich ist die Deutung von jidlaq nicht als dalaq II („verfolgen“), sondern als dalaq I („brennen“), also „durch den Hochmut des Schlechten brennt der Elende“. Aber das wäre nicht idiomatisch, so daher fast kein Exeget - dafür aber einige Üss: H-R, HER05, MEN: „Des Frevlers Frechheit ängstigt den Armen“; B-R, NeÜ, Herkenne 1936: „Durch den Hochmt der Gottlosen fiebert der Arme“; , R-S, Alexander 1850: „Durch den Hochmut des Schlechten leidet der Arme“, dies wohl auch HfA, NL. (Zurück zu v.2)
eV. 2b lässt sich entweder verstehen als „die Schlechten fangen den Elenden durch die von ihnen erdachten Ränke“ oder wieder wie in Ps 9,16f. als „die Schlechten verfangen sich in den Ränken, die sie [selbst] erdacht haben“. In diesem Kontext - der Schilderung der Übeltaten schlechter Menschen - ist sicher erstere Deutung vorzuziehen.
Der Wechsel vom Sg. („der Schlechte“ + „der Elende“) zum Pl. (sie werden gefangen“, „die sie erdacht haben) ist als N-Shift zu erklären: aus poetischen Gründen kann in bib. Lyrik von einer Zeile auf die nächste von einem Numerus zum nächsten gewechselt werden, ohne, dass dies einen Bedeutungsunterschied machen würde. Hier ohnehin unproblematisch, da „der Schlechte“ und „der Elende“ sicher generalisierende Singularnomina mit Pluralbedeutung sind: Gemeint sind schon in der ersten Zeile mehrere Schlechte und Elende.
(Zurück zu v.2)
ftFN: der Schlechte rühmt seine Seele für [ihre] Lust - schwieriger Satz. Das Verb halal fordert ein Objekt; auf den ersten Blick findet sich hier aber keines, denn was folgt, ist `al-ta´awath napscho. Die Präposition `al zeigt an, dass das Folgende nicht das Objekt des Rühmens ist, sondern das, wofür das Objekt gerühmt wird (so oft im Hitpael, für Piel s. Esra 3,11; Ps 119,164; so richtig schon Kissane 1953, S. 43). Wahrscheinlich muss man also den Satz analysieren wie folgt: `al-ta´awath ist das, wofür der Schlechte das Gerühmte rühmt, nämlich „für Lust“. ta´awath ist nicht das erste Glied in einer Genitivkonstruktion „die Lust seiner Seele“, sondern die Endung -at ist nur eine alternative Endung von ta´awah (dazu vgl. wieder Rendsburg 1991, S. 89f.), daher ist napscho nicht als Genitiv „seiner Seele“ zu analysieren, sondern als das gesuchte Objekt von halal: „Er rühmt für Lust seine Seele“. Alternativ sind viele verschiedene Textkorrekturvorschläge gemacht worden; am besten sicher Kissane 1953, S. 39: „Der Schlechte rühmt Bos[heit], / der Halsabschneider und segnet sein Verlangen.“ (Zurück zu v.3)
gAbschneider = Erpresser; das Verb batsa` („abschneiden“) findet sich oft in der Bed. „erpressen“ in der Bibel. Schön Herkenne 1936: „Halsabschneider“. (Zurück zu v.3)
hflucht - barak hier wie oft nicht in der Bed. „segnet“, sd. „flucht“; vgl. z.B. Schorch 2000, S. 101f. So fast alle Üss. (Zurück zu v.3)
iflucht, verachtet (V. 3) + bricht zusammen, sinkt nieder (V. 10) - zur Konstruktion vgl. Müller 2013b, S. 62f.: Zwei Verben werden ohne Konjunktion aneinander angeschlossen, um den Ausdruck noch stärker zu machen (vgl. S. 68). (Zurück zu v.3 / zu v.10)
j[denkt:] - Zu Einleitungen wörtl. Rede ohne ein verbum dicendi/sentiendi wie „sagt“ oder „denkt“ vgl. z.B. Gordis 1949, S. 174-176; zwei Bspp: Pred 8,2: „Ich [sage]:...“; Hos 14,8: „Ephraim [soll sagen:]...“ (Zurück zu v.4)
kEr sucht nicht = kurz für „Gott rächt schlechte Taten nicht“, s. Ps 9,13 und dazu FN w. Gut daher Bonkamp 1949: „Er wird nicht rächen“; , Gordis 1957, S. 121, HER05: „Gott straft nicht“; H-R, Weber 2001: „Er wird nicht ahnden“.
In V. 4 auch möglich: „Im Hochmut seiner Nase sucht der Frevler nicht“, nämlich Gott (zu „Gott suchen“ als Ausdruck für die Verehrung JHWHs vgl. FN t zu Ps 9,11). Das Zitat unseres Verses in 10,13 zeigt aber, dass „Er sucht nicht!“ hier die Gedanken des Schlechten sind (so richtig Gordis 1957, S. 113). (Zurück zu v.4 / zu v.13)
lEs gibt keinen Gott ist keine theoretische Leugnung der Existenz Gottes an sich, die im Alten Israel schwer vorstellbar wäre, sondern eine praktische: Der Schlechte lebt, als gäbe es keinen (rächenden!) Gott. „Für den hochnäsigen Frevler ist Gott eine quantité négligeable, dem kein Recht etwas zu ahnden zusteht.“ (Herkenne 1936, S. 70). (Zurück zu v.4)
mProfan - „Die Wege sind profan“ = „seine Wege sind nicht Gottes Weg“, d.h. er lebt nicht so, wie dies Gottes Weisung entsprechen würde. Sinnvoll Kissane 1953: „His ways are impious at all times“.

tFN: Für diese Deutung hat man entweder mit Goldingay 2006, S. 164 davon auszugehen, dass zu chalal („profanieren“) eine Nebenform chul existierte, von der das Wort gebildet ist, oder mit Kissane 1953, S. 41 zu emendieren nach jechallu von chalal.

stark? - Sehr viele orientieren sich an Tg („seine Wege gedeihen“) und mutmaßen, Tg habe das heb. Wort auf die aram. Wurzel chjl („stärken“) zurückgeführt, die nur hier und in Ijob 20,21 auch für das Heb. anzunehmen sei. Das ist recht zweifelhaft. Erstens übersetzt auch Tg nicht mit chjl, was ein Indiz dafür ist, dass auch im Aramäischen „starke Wege“ nicht idiomatisch sind, zweitens bedeutet das aram. chajel nicht „stark sein“, sondern nur „stärken“, drittens muss das Wort in Ijob 20,21 dann auch noch in einer anderen Bed., nämlich „Bestand haben“, genommen werden, wo es sich auch dann nur schwer in den Kontext fügt (vgl. ähnlich Goldingay 2006, S. 164). Auch mit den anderen alten Üss. lässt sich diese Deutung nicht stützen: LXX, Syr, VUL verbinden wie wir mit chalal („entweihen“) („Profan sind seine Wege“), Hieronymus, Aq, Quinta und Saadja mit chjl („kreisen, sich winden“) (H: „Seine Wege kreisen alle Zeit“, Aq+Q: „Seine Wege schmerzen“, S: „Immer von Neuem beginnen seine Pläne“). Letzterer Deutung folgt übrigens auch Eerdmans 1947: „His ways are wavering“. (Zurück zu v.5)
nHoch [sind] deine Gesetze, fern von ihm - d.h. wieder: Um Gott und seine Weisung schert sich der Schlechte nicht im Geringsten. Schön : „Hoch droben und fern von sich wähnt er deine Gerichte.“ (Zurück zu v.5)
oschnauben nur hier in dieser Bed.; gemeint ist wohl das niedergemacht-Werden Gedrückter durch ihre Unterdrücker. Vgl. das ähnliche Wort scha´ap in Ps 56,2f.; 75,4; Ez 36,3. Am besten , ZÜR: „All seine Gegner faucht/fährt er an“; sinnvoll auch HER05, NL, PAT: „er verspottet seine Feinde“, H-R, MEN, R-S: „er höhnt seine Gegner aus“. (Zurück zu v.5)
pwanken - Das „Wanken“ ist in der biblischen Poesie eine häufige Metapher für eine Gefährdung, aus der direkt Vernichtung und Tod folgt. Wer dagegen „nicht wankt“ ist sicher und geschützt und wird daher ewig bestehen; s. bes. gut Spr 10,30; 12,3; auch Ps 16,8; 46,6f; 62,3.7; 112,6; 125,1. Wie an den Stellen zu sehen ist, handelt es sich bei diesem nicht-Wanken meist um eine Gnadengabe Gottes; hier dagegen wird es gerade auf die Nichtexistenz Gottes zurückgeführt. (Zurück zu v.6)
qSo dass (weil; [ich], der) [ich] nicht (nie) [sein werde] im Unglück. - die Üs. folgt im Großen und Ganzen Alexander 1850, versteht aber ´ascher als Einleitung eines adverbialen Nebensatzes (vgl. Ges18, S. 111f.). Alternativ hat für diese Zeile fast jeder Exeget einen eigenen Textkorrekturvorschlag vorgelegt. (Zurück zu v.6)
runter seiner Zunge - das „unter“ ist wohl nicht bedeutsam (anders Gordis 1957, S. 115: „Not ‚on his tongue,‘ but ‚under his tongue,‘ i.e., as a delicacy“): Unter seiner Zunge liegen „Mühsal und Unheil“ also gerade die (spürbaren) Effekte seiner List und Gewalttätigkeit (gut daher NGÜ: „Was sie von sich geben, bringt anderen Unheil und Schaden“). „Sein Mund ist voll von X“ und „Unter seiner Zunge ist X“ sind also wohl Synonyme: Was er auch von sich gibt, ist schlecht, gemein und schädlich. (Zurück zu v.7)
sDörfer wird gern korrigiert, zum Sinn aber gut Gordis 1957, S. 116: „chtsrjm is an unwalled settlement (defined as such in Lev 25,31), a peaceful village where violence is not normally expected and hence not guarded against. nqj is its parallel, meaning ‚innocent‘ in its etymological sense, ‚doing no harm,‘ actually ‚unarmed.‘ [...] The passage emphasizes the enormity of the crime, against which no precautions have been taken.“ (Zurück zu v.8)
ttFN: Verfolgten (V. 8) + Verfolger (V. 10) + Verfolgte (V. 14) - unsicheres Wort, in der Bibel nur in Ps 10 zu finden. Zusätzlich verkompliziert wird die Sache dadurch, dass es in zwei verschiedenen Formen vorliegt: im Sg. chelkah in Vv. 8.14 und im dann ungewöhnlichen Pl. chelka´im in V. 10. Und noch mal verkomplizierend kommt hinzu, dass sich dieser ungewöhnliche Plural mehrere Male in den Qumran-Texten findet (s. 1QH XI 25f.; XII 25.35; 4Q432 Frg 4 II,1) und dort offensichtlich eine Bezeichnung für Übeltäter ist, während hier in Vv. 8.14 offensichtlich mit dem Sg. der Elende gemeint ist.

Wir folgen der Deutung von Komlós 1957: Weil das Wort in 1QH XI 26; hier und übrigens auch in 4Q432 Frg 4 II,1 im Zhg. mit Netzen genannt wird, leitet er ab vom heb. chkh („Haken“); die chelka´im sind dann die „Hakenden“, also die Verfolger; der chelkah dagegen der „Gehakte“, also der Verfolgte. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Bonkamp 1949, S. 76 FN 16, der das Wort vom akkadischen hallku („Flüchtling“) ableiten will.

Die übliche Deutung als „Unglücklicher“ nach einer Ableitung vom arabischen chalaka („schwarz sein“, so z.B. Wallenstein 1954, S. 214; Ges18, S. 355) ist vor dem Hintergrund der Qumran-Stellen nicht gut möglich, weil zwar noch einzusehen wäre, wie aus „schwarz“ die Bedeutung „Unglücklicher“ oder „Böser“ entstehen soll, aber nur schwerlich, wie daraus beide Bedeutungen gleichzeitig entstanden sein sollen. Zu einem weiteren, aber unwahrscheinlichen Vorschlag vgl. Simpson 1969. (Zurück zu v.8 / zu v.10 / zu v.14)
uin sein (mit seinem) Netz zieht - ein plötzlicher Übergang von der Löwenmetapher zur Fischermetapher, nachdem von V. 8 auf V. 9 schon ebenso plötzlich von der Räubermetapher zur Löwenmetapher gewechselt wurde. Solche schnellen Metaphern-wechsel sind im Heb. normal und der Text also nicht problematisch, während sie im Dt. etwas kurios wirken - vgl. nur in Ps 9,4-13 die Darstellung Gottes als Streiter (V. 4), als königlicher Richter (Vv. 5f.), wieder als Streiter (V. 7), wieder als Richter (V. 9), als Zuflucht (Vv. 10f.) und als Bluträcher (V. 13). Auch hier wird im nächsten Vers wieder zur Löwenmetapher und in V. 11 wieder zur Fischermetapher zurückgewechselt. Zur Fischermetapher für Vernichtung s. noch Jer 16,16; Am 4,2; Hab 1,15f.; die Fischermetapher passt in der heb. „Metaphernwelt“ besser zur Löwenmetapher als im Dt. (Zurück zu v.9)
vV. 10 - Die meisten gehen davon aus, dass die chelka´im in V. 10 die selben sind wie der „Verfolgte“ in Vv. 8.14 (vgl. dazu FN u; aus diesem Grund muss dann anders übersetzt werden. Für unsere Deutung muss mit Komlós 1957, S. 246, der ursprünglich vokallose Konsonantentext ein wenig anders vokalisiert werden.

Nach der anderen Deutung der chelka´im ist entweder zu übersetzen: „Der bricht zusammen, sinkt nieder / und es fallen die Unglücklichen/Verfolgten in seine (=des Schlechten) Klauen/durch seine Macht“, oder (schöner): „Er duckt sich und bückt sich [wie ein Löwe vor dem Sprung] / und der Unglückliche fällt in seine Klauen“ (so z.B. Olshausen 1853; Terrien 2003).

Letzters auch schon bei Saadja: „Die[se] Worte [...] stellen das Verhalten des Löwen dar. Wenn sich derselbe nämlich zum Sprunge vorbereitet, so duckt er sich erst, um sich zu sammeln [...]. Ebenso der Frevler. Siehst du ihn sich vor dir erniedrigen und dich mit Sanftmuth anreden, so hüte dich vor ihm, denn dies ist Verstellung [...].“ (Üs. nach Margulies 1884). (Zurück zu v.10)
wGott vergisst (V. 11) + Vergiss (V. 12) - Die Rede vom „Vergessen“ Gottes meint meist sein aktives sich-Abwenden von jmdn (s. z.B. 1 Sam 1,11; Ps 13,2; 42,10; 44,25; Jes 49,14; Klg 5,20). In V. 11 schert sich der Schlechte also wieder überhaupt nicht um die Existenz Gottes und seiner Weisung; er lebt, als würde Gott seine Freveltaten einfach ignorieren. Darum ruft der Elende, weil von dem Schlechten gedrückte, Psalmist in V. 12 Gott auf, doch nun endlich einzuschreiten: Steh auf!, d.h., werde aktiv! Heb deine Hand, d.h. mach' jetzt was! Vergiss nicht!, d.h. wende dich dem Elenden gnädig zu! (Zurück zu v.11 / zu v.12)
xDass Gott sein Gesicht verbirgt, ist eine häufige Metapher für den Gnadenentzug JHWHs (s. FN u zu Ps 30,8); in unserem Kontext ist es aber besser nicht als Metapher zu nehmen, sondern als alternative Formulierung für den nächsten Satz: „Gott sieht nicht“. S. zu dieser Bedeutung z.B. Ex 3,6 oder ganz ähnlich wie hier Ps 51,11. (Zurück zu v.11)
ySieht nicht auf immer - d.h., schert sich nicht um das Geschehen auf der Welt, so dass man ihn in seinem Handeln getrost ignorieren kann.
Man beachte die Häufung an Verben in Vv. 9b-11: Die Klage über das Verhalten der Schlechten kommt hier zu ihrer Klimax, die einzelnen Anklagen überstürzen sich regelrecht im Gebet des Psalmisten. (Zurück zu v.11)
zTextkritik: Mein Gott (Gott) - Der MT hat „Gott“; Aq, Sym, Syr und (nach einigen Handschriften) auch LXX lag aber offenbar ein heb. Text vor, in dem „mein Gott“ stand. Kissane 1953, S. 40 etwa hält das für ursprünglicher, und da MT nur von VUL und Hieronymus gestützt wird, während Tg auch „Gott“ streicht, sollte man sich dem wohl besser anschließen. (Zurück zu v.12)
aaSehr schwieriger Satz. Am sinnvollsten ist der Deutungsvorschlag von von Lengerke 1847, S. 48: Gott soll [es, nämlich Mühsal und Leid,] in seine Hände „geben“, d.h. sammeln. Vgl. Ps 56,9: „Sammle meine Tränen in deinem Schlauch. Stehen sie nicht in deinem Buch?“ - d.h.: Gott soll über das Leid des Elenden „Buch führen“. Und vgl. Jes 49,16: „In meine Hände habe ich dich geritzt“. Gott soll Mühsal und Leid also nicht ignorieren, sondern „untersuchen“, und dann im Kopf - oder hier: in der Hand - behalten. Zu übersetzen wäre dann: „indem du [es] in deiner Hand sammelst“ oder freier etwas wie „Schließlich beachtest du Leid und verzeichnest es gar.“

Genauer: Der Satz besteht nur aus zwei Worten: latet, dem Wort natan („geben“) in der Verbform Liqtol, und bejadecha, also „deine Hand“ plus die Präposition be („in, aus, mit, durch,...“). Ein Verb im Liqtol ist „sowohl atemporal als auch apersonal“ (A-C §3.4.1); jeweils aus dem Kontext muss daher erschlossen werden, wer das Subjekt des Verbs ist, wann die mit dem Verb bezeichnete Handlung stattfindet und welche Art von Nebensatz mit dem Verb gebildet werden soll (hier am wahrscheinlichsten: Final („damit“), konsekutiv („so dass“) oder spezifikativ („indem“)). Möglich ist daher neben der obigen jede der folgenden Deutungen des Nebensatzes: Gott soll Mühsal und Leid „untersuchen“ - d.h., darauf reagieren -

  • „indem er [es] [dem Leidenden ab- und] in seine Hand gibt“. So z.B. NGÜ: „du nimmst das Schicksal [der Leidenden] in deine Hände.“
  • „indem er [sie] (nämlich die Schlechten) in seine Hand gibt“, nämlich um sie zu bestrafen. So LXX, Sym, Syr; heute niemand mehr.
  • „indem er mit seiner Hand gibt“, d.h. den Leidenden sozusagen als Entschädigung für die Mühsal mit Wohltaten segnet. So z.B. TAF: „um [besser: indem] mit Deiner Hand zu geben“; so wohl auch GN: „Du siehst all das Leiden und Unheil und du kannst helfen.“ So schon Tg, auch NKJV.
  • oder: „indem er mit seiner Hand gibt“, d.h. dem Schlechten seine Übeltaten vergilt. So wohl NL: „Du merkst es und du bestrafst sie.“ Beides kombiniert FREE: „Du schaust auf Mühsal und Gram, um zu vergelten durch deine Hand.“
  • sehr interessant, aber auch sehr unwahrscheinlich B-R und R-S, die den Nebensatz nicht zum vorigen, sondern zum nächsten Satz ziehen: B-R: „es in deine Hand zu geben [besser: indem er es in deine Hand gibt, so YLT] überläßts der Elende dir“; R-S: „indem er sich in deine Hand gibt, verlässt sich auf dich der Verfolgte.“
  • auch interessant, aber nicht sehr wahrscheinlich: latet bejadeka ist gleichbedeutend mit dem dt. und engl. Idiom „etwas selbst in die Hand nehmen“: „Du schaust auf Mühsal und Leid, um [dann die Sache selbst] in die Hand zu nehmen“. So BB, Weber 2001 und einige engl. Bibeln, z.B. CEB, CJB, HCSB, wohl auch NCV, NIRV.
  • Vielleicht könnte man auch an Sir 2,22 denken: „Wir wollen lieber in die Hände des Herrn fallen als in die Hände der Menschen“ - und dann davon ausgehen, dass V. 14 im Kontrast zu V. 10 stehen soll, wo der Elende in die Klauen der Schlechten gefallen ist: „indem du [sie (=die Elenden)] [aus den Klauen der Schlechten] in deine Hand gibst“. Aber dafür wäre das Objekt - die Elenden - wohl zu weit weg; zuletzt wurden sie in V. 12 genannt. Oder das Objekt ist der Verfolgte in der nächsten Zeile; solche rückwirkenden Brachylogien finden sich häufiger im Heb. Diese Deutung hätte den schönen Nebeneffekt, dass die viermalige Rede von den „Händen“ in Vv. 10-15 über Kreuz läuft: Der Elende ist in die Klauen der Verfolger gefallen (V. 10), Gott soll ihn stattdessen in seine Hand geben (V. 14). Gott soll seine Hand heben, also aktiv werden (V. 12), aber die Arme der Schlechten zerbrechen, also ihre Aktivität unterbinden (V. 15). (Zurück zu v.14)
abtFN - Die Verbformen in V. 14 (Qatal - Yiqtol - Yiqtol - Qatal) müssen nicht mit Zuber 1986 als (bedeutungsloser) T-Shift zu erklärt werden. V. 14a ist eine gnomische Aussage, 14b ein Wunsch. In 14c ist das Yiqtol ein abilitives Yiqtol und das Qatal in 14d mit der Wortstellung X-Qatal ist ein unmarkierter Nebensatz mit kausaler Sinnrichtung. (Zurück zu v.14)
acSuche wieder i.S.v. „räche“, vgl. wieder FN w zu Ps 9,13. Gut Bonkamp 1949: „Räche sein Unrecht!“; Terrien 2003: „Pursue his crime!“, Weber 2001: „Ahnde seinen Frevel!“ (Zurück zu v.15)
adsein = „ihr“, das des Schlechten und Bösen. Theoretisch könnte man alternativ auflösen: „Zerbrich den Arm des Bösen! / Und vom Schlechten suche sein Böses (=Und suche das Böse des Schlechten), bis...“. So wollten schon die Masoreten den Vers verstanden wissen, aber das ist von der Zahl der Worte, die dann auf die einzelnen Zeilen fallen würden, recht unwahrscheinlich. (Zurück zu v.15)
aeV. 15b ist entweder so zu verstehen, dass „finden“ der Korrespondenzbegriff von „suchen“ ist („Räche so lange, bis nichts mehr zu rächen ist (weil die Übeltaten ausgegolten sind)!“). So z.B. BB: „Verfolge das Unrecht, das er begangen hat, bis du nichts mehr davon findest.“ Oder - wegen V. 16 in der Tat wahrscheinlicher -: „Räche dich so lange an den Schlechten, bis sie überhaupt nicht mehr existieren!“. So z.B. H-R: „Ahnde bis zur Vernichtung des Bösewichts Sünde!“, STAD: „Strafe den Bösen, damit er verschwinde“.
Textkritik: LXX und Syr übersetzen impersonal (=erste Übersetzungsalternative). Entweder ändern sie dafür den Text oder lesen die 2. Pers. als impersonal, wie sich das bisweilen findet (vgl. GKC §144c; so z.B. Gordis 1957, S. 118). Dem folgt auch eine ganze Reihe Üss. Die zweite Übersetzungsalternative ist als Übersetzung auch ohne Textänderungen möglich und wird so von Ehrlich 1905 und R-S vertreten. Beides ist ganz unwahrscheinlich; darasch ist in Ps 9-10 ein Leitwort, mit dem das Rächen Gottes bezeichnet wird. (Zurück zu v.15)
afNationen - Heb. gojim, oft verwendet für Nationen qua heidnische Nationen; sinngemäßer daher „Heidenvölker“ (ähnlich z.B. Bonkamp 1949; Ehrlich 1905; Weber 2001: „Heiden“). (Zurück zu v.16)
agdie Bereitung ihres Herzens (bereite ihr Herz) meint wahrscheinlich das Gebet; die Zeile ist damit eine synonyme Formulierung der vorigen Zeile. S.u. So auch R-S: „ihres Herzens Sorgen neige hin Dein Ohr“.
Textkritik: Heb. takin libam. takin ist ein Verb in der 2. Pers., das neben MT auch Tg, Aq und Hieronymus vorliegen hatten („du wirst/sollst bereiten/hast bereitet ihre Herzen“); LXX, Sym, Syr und VUL übersetzen aber mit einem Nomen, nämlich entweder „die Bereitung ihres Herzens“ (LXX, Syr), „die Aussage ihres Herzens“ (Sym) oder „das Begehren ihres Herzens“ (VUL). Alle vier lassen sich zurückführen auf hakin libam, „das Bereiten ihres Herzens“. Dem wird man besser folgen müssen: Fast alle Kommentare und Üss. übersetzen mit „stärke ihre Herzen“ oder „richte ihre Herzen auf“. Aber die Wendung „das Herz bereiten“ findet sich in der Bibel häufig und mit einer stabilen Bedeutung: kun meint entweder „zurichten“ oder „ausrichten“ und „das Herz zu-/ausrichten“ meint daher stets entweder, dass ein Herz zum Gebet „zugerichtet“, also vorbereitet ist (s. Ps 57,8; 108,2), oder dass ein Herz auf Gott oder seine Gebote „ausgerichtet“ ist (s. 1 Sam 7,3; 2 Chr 12,14; 19,3; 20,33; 30,19; Esra 7,10; Ps 78,8; 112,7; vom ausgerichtet-sein im Gebet: Ijob 11,13). Eine parallele Formulierung zum MT unserer Stelle findet sich in 1 Chr 29,18: „Richte ihr Herz zu dir!“. Diese Bedeutung hätte MT auch hier, es fügt sich aber in dieser Bedeutung nur schwerlich in den Kontext. Das tabin („nimm ihr Herz wahr“) in einigen Handschriften ist wohl darauf zurückzuführen, dass die Schreiber das schlecht passende Wort korrigieren wollten. Besser daher als hakin: Die „Ausrichtung ihres Herzens“ meint wie in Ijob 11,13 das Gebet; „Auf die Ausrichtung ihres Herzens lass dein Ohr horchen“ und „du hörst das Verlangen der Elenden“ sind also synonyme Formulierungen. So auch der Midrasch, wo unsere Stelle kommentiert wird wie folgt: „R. Josua (Samuel) bar Nachman hat gesagt: Wenn der Mensch sein Herz auf das Gebet richtet, so kann er versichert sein, dass sein Gebet erhört wird [...].“ (Üs. nach Wünsche 1892, S. 98). Auf anderem Wege zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Gordis 1957, S. 119, der sehr unwahrscheinlich ein Substantiv takin mit der Bedeutung „Inhalt“ ansetzt („dem Inhalt ihres Herzens lausche“) und BHS und Kissane 1953, S. 41, die hegjon („Nachsinnen, Beten“) lesen wollen („dem Beten ihres Herzens lausche“), was aber die alten Übersetzungen nicht gut erklärt. (Zurück zu v.17)
ahMenschlein aus Erde - Die letzte Zeile ist sehr nahe an den den letzten beiden Zeilen von Ps 9. Wieder wählt der Dichter bewusst das Wort ´enosch, mit dem oft der Mensch qua schwaches Wesen bezeichnet wird (vgl. z.B. TWOT 136a). Das „aus der Erde“ soll dies noch zusätzlich unterstreichen. (Zurück zu v.18)